Teil sieben der Aufzeichnungen des Uwe Holl, der sich in seinem Text Martin W. nennt.
V. Abendwind III
Es klopfte an der Tür und "Herein" und "Guten Abend" und die Stube ist erfüllt vom Abendwind und ich hellwach und meine große Freude und ich höre mein Herz überall im Körper schlagen und: "Marsha, du kommst heute nicht durch das Fenster?"'
"Dies ist nicht das Badehaus."
"Ich freue mich, daß du gekommen bist."
"Dein Freund ist nicht da."
"Er ist noch unterwegs. Es kann fünf Minuten oder fünf Wochen dauern."
"Oder fünf Jahre? Du bist so konkret."
"Ich weiß nicht, wo er ist und wie lange er fortbleibt. Er ist nicht hier."
Wir aßen und tranken und sie erzählte, sie werde aus der Stadt weggehen. Die Arbeit im Hotel sei nicht gut, weil die Männer sich dort aufdringlich benehmen würden. Ich sagte, sie könne bei uns bleiben, der Alte wäre einverstanden, und ich fände es schön, wenn sie zu uns käme. "Ich werde es mir überlegen", sagt sie. Wir tranken vom Pflaumenwein des Alten, und ich pfiff die alten Lieder. Sie war ganz still.
"Ich möchte dich berühren", sage ich. Stille.
"Ich werde dich berühren." Keine Reaktion. Was sollte sie auch darauf antworten? Sollte sie darauf antworten? Ich fasse ihre Arme, ihre Schultern.
Ich hatte etwas zwischen Zuwendung und Ohrfeige erwartet aber nichts, nichts. Sie sitzt und ist wie Holz, wie geschliffenes Holz, sanfte Haut, warm und erstarrt. "So etwas habe ich überhaupt noch nicht erlebt! Du hättest mir wenigstens eine Ohrfeige verpassen können. Macht es dir keinen Spaß, wenn ich dich berühre?" Jeder Mensch braucht Zärtlichkeit und sie hatte sie sicher schon lange entbehren müssen. Warum dieses Nicht-Ablehnen und Nur-Dulden?
"Hast du Angst, ich falle über dich her, wenn du mir zeigst, daß dir meine Berührung Spaß macht?"
"Nein, davor habe ich keine Angst."
"Dann solltest du mich auch berühren."
Es ist mir im Leben immer so ergangen, daß ich Dinge, die sehr wichtig für mich waren, vergaß und daß mir winzige Gesten, der Klang eines Wortes, ein Blick über Jahrzehnte nicht in Vergessenheit gerieten. Noch heute kann ich Erlebnisse mit diesen Erinnerungen aus mir hervorholen. So geht es mir auch mit dieser Berührung: Ich sehe ihre Hand sich meinem Gesicht nähern, der Handrücken berührt meine Wange und ist doch eigentlich keine Berührung, nur ein Sekundenhauch.
"Kannst du das noch einmal machen?" Ja, sie kann es, und es ist wie die erste Berührung, zaghaft, die Spur eines Hauches. Und ich streichele sie und sie, diese Lichtspur dunklen, offenen Haares läßt es zu, tut nichts dafür, nichts dagegen, bleibt wie geschliffenes Holz.
"Irgendetwas an mir muß es doch geben, was du gut findest, sonst wärest du heute nicht hier."
"Du kannst schön erzählen, und die Lieder, die du singst, gefallen mir", antwortet sie. Verblüffung meinerseits: "Und das ist alles? Das kann doch nicht alles sein! Du bist zweimal zu mir ins Badehaus gestiegen, hattest genug Gelegenheit, mich zu betrachten. Hat mein Körper dich nicht interessiert?"
"Nein."
"Ich bin zwar kein Adonis aber auch kein Krüppel."
"Es ist so, er hat mich nicht interessiert."
"Und du. läßt dich von mir streicheln?"
"Ja, das ist schön."
"Meinst du nicht, daß das alles nicht recht zusammenpaßt? Wenn mir eine Frau gefällt und ich gefalle ihr, wird sein, was beide wollen und das, was einer nur will, wird nicht sein. Und es ist bestimmt ein Fehler, ein großer Fehler, mit seinen Gefühlen hinter dem Berg zu halten. Es gibt nur wenig Schlimmeres als zu bereuen, etwas nicht getan zu haben."
Ich streichele sie und sie berührt mich. Aus dem geschliffenen Holz werden zwei Arme, die mich halten und ein Mund voller Lust und ihr Haar duftet nach Wiesenkräutern.
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