Sonntag, 28. Dezember 2008

An der Kasse im Selbstbedienungsladen

Supermarkt, Sonnabend, 27. Dezember, 11.32 Uhr.
Ich muss mich entscheiden, an welche Kasse ich den gefüllten Korb schiebe. Heute will ich alles anders machen, denn bisher gehöre ich zu den Kunden, die immer in der langsamsten Schlange auf den Platz am Laufband warten. Im Vorübergehen habe ich die Kassen eins und zwei ausgewählt. Dort sitzen Kassiererinnen, von denen ich weiß, dass sie schnell arbeiten. Kasse drei kommt nicht in Betracht. Die Kassiererin mit dem hochrotem Kopf und Schweißtröpfchen über der Oberlippe habe ich hier noch nie gesehen: Eine Aushilfe zwischen den Festtagen?

11.34 Uhr.
Ich habe auffallend unauffällig die Körbe und ihre Schieber an beiden Kassen gemustert. Vor dem Laufband an Kasse eins stehen zwei hochgefüllte Einkaufskörbe. Das muss noch nichts heißen, sage ich mir. Durch Kleinkram getarnt sind die zwei Getränkekisten kaum in dem vorderen Korb zu erkennen. Doch ich weiß, die Kisten sind schnell abgerechnet. Der Kunde ist schneller an der Kasse vorbei als ich mit meiner Halbfüllung. So wäge ich Korbinhalte darauf ab, wie flink die Kassiererin sie bezwingen kann. Kleinkram kostet viel Kassierzeit.

Doch ebenso ist jeder Kunde ein Risiko für schnellen Korbvorschub. Männer um die 50 mit gutem Einkommen können zur Korbbremse werden, wenn sie die Weinflaschen auf das Förderband stellen statt sie zu legen. Aber schließlich soll jeder Schlangesteher ruhig sehen, dass er sich 18 Euro-Wein leisten kann. Dass umfallende Weinflaschen große Schweinereien und damit Dauerstockungen verursachen können, ist dem Besserverdiener egal. Er hat die Kasse dann fast hinter sich. Hinzu kommt, dass Besserverdiener umständlich mit Karten zahlen und die Waren ungeschickt einpacken. Sie tun es eben nicht so oft.
Ältere Damen zahlen meist bar. Doch vorsichtig bin ich immer, wenn die Dame eine stärkere Brille trägt. Diese Frauen neigen dazu, das Kleingeld aus ihrem Portemonnaie auf den Kassentisch zu schütten: „Schauen Sie doch mal, ob sie was herausfinden.“ Ältere Ehepaare dagegen packen nach dem Kassieren wie gehetzt die Waren wieder in den Korb. Sie beschleunigen die Schlangen.

11.36 Uhr.
Ich will den alles entscheidenden Augenblick nicht länger hinauszögern. Heute stelle ich mich an die Schlange vor Kasse zwei, von der ich annehme, sie sei die langsamere. Am Schlangenende ein gefüllter Korb ohne Herrchenfrauchen. Als die Schlange vorrückt, umfahre ich den verwaisten Korb. Sekunden später spricht mich eine rundliche, kleine Frau an: "Haben Sie geschoben meine Wagen?"
Eine Polin? Wahrscheinlich.
Ich schaue sie an, hole langsam Luft und höre mich antworten: "Nein, habe nicht geschoben ihre Wagen."
Sie sagt nichts, ich auch nicht. Was sollte ich auch sagen? Ich habe über die Schlangengeschwindigkeit nachzudenken und bleibe bei meinem Entschluss: Ich deute alle Vorzeichen und bleibe in der langsameren Schlange. So werde ich schneller sein. Ich visiere die Dame auf gleicher Höhe in der Nachbarschlange an.

11.47 Uhr.
Mit meiner neuen Taktik mache ich das Rennen in Schlange zwei. Locker ziehe ich an der Frau an der Nebenkasse vorbei. Als ich erleichtert aus der Halle verschwinden kann, muss meine Vergleichs-Dame noch zwei Kunden abwarten.

Ich werde einen Wettkampf daraus machen. Finde ich willige Wettkämpfer, veranstalten wir ein Rennen in Super-Zeitlupe.

Sonntag, 21. Dezember 2008

Der Reiter

Mein Erster Besuch im Gefängnis! Am liebsten nie wieder! Doch bei Gelegenheit werde ich Uwe Holl erneut besuchen.

Ich staune, wie gelassen Holl ist. Nur die Bäume vor dem Fenster und das Rauschen der See fehlten ihm, gab er zu. Ich nickte nur und dachte: Ganz schön viel, was da fehlt, Holl.

Ich muss ihn wieder besuchen. Im August erzählte er mir, warum er seinen früheren Zugführer auf der Koserower Seebrücke fast totprügelte. Es war leicht zu erahnen, dass noch viel mehr Geschichten zu der Tat führten.

Holl erzählte Geschichten, von denen ich noch nicht einmal etwas ahnte. Er erzählte aus seinem Grenzerleben an der Berliner Mauer. Ich bekam mal eine Gänsehaut, weil es fast unerträglich war, woran Holl sich erinnerte, mal musste ich lachen. Es gibt nur wenige, die diesen Teil der DDR-Geschichte kennen.
Aus all den Gründen will ich ihn wieder besuchen. Vielleicht könnte ich ihm dann Meeresrauschen vom Diktiergerät vorspielen, aufgenommen vor seiner Wohnung in Koserow. Nur die Bäume, woher soll ich Bäume nehmen?

Heute erzähle ich zum Angewöhnen eine Geschichte nach, die mich um Lachen reizte, den einsitzenden Rentner Holl nicht.

Der Mauer-Ritt

Die Berliner Mauer war etwa 3,7 Meter hoch. Auf die Mauer waren Betonrohre montiert worden, etwa 50 bis 60 Zentimeter im Durchmesser. Es hatte nur einen Zweck, es sollte das Überwinden der Mauer erschweren. Doch mitunter wurde das Rohr missbraucht.

Ein Sonntag Vormittag im Frühling ging in die Mittagszeit über. Die Sonne stand hoch und blendete uns im Postenturm. Mitten im Erzählen über seinen Traktor, den nun Kollegen aus dere LPG fuhren - wer weiß, was sie mit der Karre anstellen - stockte mein Posten. Posten und Postenführer saßen sich stets schräg gegenüber, um den Postenbereich und einander beobachten zu können. Kaum etwas an der Grenze war schlimmer, als jemanden mit einer Kalaschnikow hinter sich zu haben. Mein Posten riss den Arm hoch, zeigte rechts an mir vorbei zum Kanten, so nannten wie die Mauer, und sagt leise: "Ich glaube, da guckt jemand über den Kanten." In dem Bereich gab es keinen Hochstand in Westberlin. Wie sollte da jemand über die Mauer ...? Im selben Augenblick war mir klar, was gerade passierte. Über die Sprechfunkanlage meldete ich dem Zugführer in der Zentrale: "Wolf, Wolf! Und hier ist der Iltis. Versuchter Grenzdurchbruch West-Ost. Eine männliche Person zu erkennen." Völlig idiotisch waren diese blöden Decknamen und genauso bekloppt war es, dass wir unsere Meldungen immer mit dem Wort "Und" begannen, eine Marotte, unausrottbar.
"Isser schon rüber?", kam die Rückfrage.
"Er guckt rüber. Entfernung etwa 120 Meter rechts vom Postenturm. Ich sehe Kopf und Oberkörper. Schätze, der steht auf einer Leiter."
"Die Streife ist schon unterwegs."

Ich schaute durchs Fernglas, mein Posten neben mir schaute sich fast die Augen aus dem Kopf.
Ich drehte mich kurz zu ihm und fuhr ihn an: "Umdrehen! Rechts und links und das Hinterland beobachten!" Ich schaute zu, wie der Mann hinter der Mauer verschwand. Wie im Kasperletheater, dachte ich.
Mein Posten trauerte nun nicht mehr seinem missbrauchten Traktor hinterher, sondern wollte wissen: "Warum darf ich nicht mitgucken?"
"Was ist, wenn der ganze Spaß nur ein Ablenkungsmanöver ist und 100 Meter entfernt Grenz-Ede gen Westen rauscht? Ich sag dir, was dann ist, dann rauschen wir nach Schwedt!"
Offiziell hießen sie Grenzverletzer, in unserem Regiment hieß jeder Grenzverletzer Ede.
"Is ja schon gut."
"Nein, ist es nicht. Gut ist es erst, wenn ich keine Uniform mehr anziehen muss. Bis dahin passt du auf wie ein Luchs."
"Sind wir heute nicht der Iltis."
"Noch ein Wort und du kannst was erleben. Gucken, Junge!"

Ich hatte geahnt, dass es noch nicht vorbei war. Der Mann tauchte wieder aus der Versenkung auf, sah, dass ich ihn durch das Fernglas beobachtete, winkte, grinste und schwang ein Bein auf das Mauerrohr. Scheiße, ein Mauerreiter, dachte ich.
Zu meinem Posten sagte ich: "So, jetzt wird es ernst. Er reitet auf der Mauer. Hoffentlich fällt er nicht zu uns rüber. Der verarscht uns, tut als wäre die Mauer sein Gaul."
Ich riss ein Fenster auf und brüllte den Mauerreiter an: "Hau ab! Verschwinde wieder! Los, zurück zu Mutti!"
Doch der Kerl tat als sei er taub. Ich riss die Leuchtpistole aus dem Futteral, drei Stern rot - in der Woche das Leuchtsignal für Grenzdurchbruch West-Ost - in den Lauf, zugeschnappt, aus dem Fenster gebeugt und schräg nach oben in Richtung des Mauerreiters geschossen. Weder der Knall noch das Zischen des aufsteigenden Geschosses beeindruckten ihn.

Er beugte sich Sekunden später in Richtung Westberliner Seite, dass ich dachte: Nun fällt er runter. Schön wärs gewesen! Als er sich aufrichtete, sah ich, wie er auf die Mauer gelangen konnte. Er zog eine Leiter zu sich herauf.

Ich schrie in die Sprechfunkanlage: "Wo bleibt die Streife? Er zieht eine Leiter hoch!"
"Die Streife ist gleich da."
Nun kippte er die Leiter in die Waagerechte. Ich brüllte zu ihm herüber: "Mach keinen Scheiß! Stell die Leiter zurück! Stell die Leiter zurück."
Zu meinem Posten: "Pass bloß auf! Wer weiß, für wen die Leiter gedacht ist?"
Wenn ich heute daran zurückdenke, wundere ich mich, dass ich keine Angst hatte; wahrscheinlich fehlte einfach die Zeit, um mich zu fürchten.

Der Kerl fühlte sich sicher. Er wusste, dass ich nicht schießen würde. Niemals über die Mauer hinweg in den Westen schießen, war ein Gesetz an der Grenze, denn nach Schießereien an der Grenze kamen Dutzende Westberliner Polizisten und suchten Gebäude nach Einschüssen ab. Fanden sie welche, gab es regelmäßig diplomatische Verwicklungen und anschließend Strafen für den Fehlschützen.

Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich konnte nur abwarten. Der Westberliner übernahm weiterhin die Initiative. Trotz meiner Schreierei kippte er die Leiter in unsere Richtung. Eine Sekunde später stand sie im Grenzgebiet, eine Einladung zum Abhauen.
Kann doch nicht sein, dass jetzt einer abhaut, am Sonntag Vormittag und der stellt ihm die Leiter an.

Auf dem Kolonnenweg kam die Streife im Trabant-Kübelwagen angeknattert. Meinem Posten befahl ich: "Du guckts nach links und Richtung Hinterland, ich nach rechts und hinten, klar?"
"Mann, ich krieg ja gar nichts mit."
"Wenn du jetzt nicht aufpasst, kriegst du nicht mit, wenn Grenzede angeflitzt kommt. Und dann bekommen wir beide gar nichts mehr mit, so schnell sind wir in Schwedt. Schluss jetzt mit dem Gemecker."
Und falls kein Grenzede kommt, weiß ich noch lange nicht, was der Mauerreiter in den Taschen hat. Ich legte die Kalaschnikow vor mich auf die Brüstung, einen Blick auf den Reiter, einen in Richtung Hinterland.

Jetzt war es an der Streife, die Reiterei zu beenden. Sie redeten auf den Reiter ein, der jedoch nun Anstalten machte, von der Mauer in den Osten abzusitzen. Jetzt brüllten der Streifenführer und ich um die Wette: "Bleib da, wo die bist!", und "Hau endlich ab, woher du gekommen bist! Zurück!"
Hastdunicht gesehen stand der Reiter auf der Leiter und damit auf DDR-Gebiet. Jetzt rückte die Streife vor und mir wurde mulmig: Was, wenn einer der beiden die Leiter bestellt hat? Ach, ist wohl Quatsch. Doch zugleich erinnerte ich mich an zahllose Pferde, die vor Apotheken ihren Mageninhalt zur allgemeinen Besichtigung freigegeben hatten. Bloß das nicht! und noch einmal, bloß das nicht.

Der Streifenführer stand nun am Fuß der Mauer, sein Posten hatte die Kalaschnikow im Anschlag, meine Waffe lag noch immer vor mir auf der Brüstung, meine rechte Hand auf dem Kolben der Waffe. Der Postenführer machte einen Satz zur Leiter, dann einen auf die zweite Sprosse, sprang hoch und riss den Reiter herunter. Die Streife griff den Reiter und schleppte ihn von der Mauer weg. Inzwischen raste ein zweiter Kübelwagen heran, später noch einer. Einer holte die Leiter von der Mauer.

Im selben Moment ertönte Protest hinter der Mauer: "Gebt uns die Leiter wieder. Der hat sie uns geklaut." Zwei Köpfe erschienen hinter dem Rohr auf der Mauer.
Nicht schon wieder.
Der Streifenführer schrie zurück: "Beweismaterial!"
Eine Zeitlang murrten die Bestohlenen und der Streifenführen schrie uns auf dem Postenturm zu: "Völlig besoffen!" und zeigte auf den einstigen Mauerreiter.
Dann wurde endlos gemessen und fotografiert. Meine einzige Sorge war nun, dass der Kontrollstreifen anständig geharkt wurde. Eine Fußspur darauf und ich hätte mich nicht mehr wiedergefunden. Fußspuren auf dem KS, naja, warum hieß er wohl Kontrollstreifen?

Nach unserem Dienst mussten wir die Geschichte zu Protokoll geben, weg war die schöne Freizeit - alles wegen eines betrunkenen Westberliners, der unbedingt auf der Mauer reiten wollte und dann nicht mehr West von Ost unterscheiden konnte.

Sonntag, 14. Dezember 2008

Die Aufzeichnungen des Uwe Holl, alias Martin W. (8)

Teil acht der Aufzeichnungen des Uwe Holl, der sich in seinem Text Martin W. nennt.

VI. Ich besteige einen Berg und stelle Fragen


Am Morgen bin ich allein in der Hütte. Der Alte war nicht zurückgekehrt, von Marsha war ein Zettel geblieben: Ich bin bald zurück. In mir das große Gefühlsdurcheinander: Ist dem Alten etwas passiert? Fand er seinen Morgenwind? Sucht er weiter? Und Marsha? Sie war bei mir geblieben aber es war nicht alles gewesen. Jetzt war auch sie verschwunden. Wohin? Sie war immer am Abend gekommen, diese Lichtspur und was sind Abende ohne Tage?

Dieses Tal, das wie meine Heimat geworden war, ist nun bedrückend eng. Ich gehe vor die Hütte, der Morgennebel hat sich aufgelöst. Es ist Tag, aber die Sonne ist noch nicht über die Berge gestiegen. Ich schaue hinauf und mir ist, als wollten die Berge auf mich stürzen. Ich muß hinauf auf die Berge, weg aus dem Tal. Ich glaube, wenn ich von dort das Tal überblicke, wird Ruhe in mir einkehren, und ich mache mich auf den Weg. Und ich steige hinauf, das Klettern wird mir immer schwerer und ich denke: Berge, das sind himmelwärtige Schweißabforderer.

Endlich strahlt mir die Sonne entgegen. Ich gehe über eine große Wiese, um das letzte Stück Weg zum Kamm zu steigen. Mein Herz schlägt wild, das Atmen fällt schwer und je größer die Anstrengung, desto weniger werden die Gedanken an den Alten und an Marsha.

Ich bin auf dem Kamm angelangt, setze mich ins Moos und belauere meine Gedanken. So wie ich mich erhole von der Anstrengung des Aufstiegs, kehren die sie in mich zurück.

Ich schaue hinab in das Tal, sehe tief unten die Hütte aber die Gedanken sind mir neu: Was hast du hier, in diesem Tal, an diesem Fluß verloren? Wolltest du nicht bis zur Mündung? Hattest du nicht vor, neue Menschen in Hülle und Fülle kennenzulernen? Du kennst die Frauen aus dem Laden. Glaubtest, den Alten und Marsha zu kennen und beide sind dir davongelaufen und brauchen dich nicht, wenn es ernst wird mit dem Leben. Gibt es überhaupt jemanden, der dich nötig hat zum Leben? Wen brauche ich? Sicher, die Umgebung, die Menschen hier sind nicht jene, die ich bisher kannte, aber bin ich anders geworden?

Und Marsha: Ich war der Meinung, sie würde ihre Gefühle vor mir verbergen, aber wenn, dann vielleicht nur, weil ich selbst zu den großen Liebesvergrabern gehöre. Es schwebt keine Fee hernieder, kein Zauberer erscheint, mir drei Wünsche zu erfüllen. Kein Eremit ist weit und breit zu sehen, mich mit weisen Ratschlägen zu füttern.

Hinabsteigen.


Nachbemerkungen:

Diese Aufzeichnungen schrieb Uwe Holl unter dem Pseudonyn Martin W.

Den Titel dieser Schrift wählte ich. Die Kapitelüberschriften stammen von Holl.

Uwe Holl hat jede Erklärung zu der Geschichte abgelehnt. Ich solle sie nehmen wie sie ist, meinte er.

Aber ich habe Paul B. gefunden. Von ihm erfuhr ich, dass er, Paul B., mit Marsha A. zusammenlebt. Sie haben im Landesinnern, bei Demmin, einen kleinen Landwirtschaftsbetrieb übernommen, Marsha A. erteilte mir keinerlei Auskünfte.

Sonntag, 7. Dezember 2008

Gedankenspiel

Habe in einem Gottesdienst den Pfarrer vom Lebendigen Gott sprechen hören.
Da fiel mir ein: Kann Gott auch tot sein? Wohl nicht. Warum dann das Reden vom Lebendigen Gott?
Und ich erinnerte mich an den Begriff real existierender Sozialismus.

Beides erweckt den Anschein, es müsse so sehr betont werden, weil so wenige daran glauben.

Was möchten Sie über Uwe Holl wissen?

In einer Woche lesen Sie das Ende der Geschichte von Uwe Holl, der sich lieber Martin B. nennt, vielleicht, um Abstand von seiner Vergangenheit zu gewinnen.

Inzwischen werde ich Uwe Holl im Stralsunder Gefängnis besuchen. So kurz vor Weihnachten kann das weder ihm noch mir schaden. Ich habe keine Ahnung, ob oder was Holl mit erzählen wird. Ich werde auch nichts mit ihm absprechen. Doch falls er keinen Anfang findet, werde ich ihm Fragen stellen.

Da fällt mir ein, dass Sie, die "Sturmfeld" kennen, einiges über Holl wissen, gern manches mehr über ihn wüssten. Stellen Sie Ihre Fragen im Kommentar; das können Sie auch anonym tun. Ich werde sehen, ob ich Ihre Fragen in mein Gespräch mit Holl einbauen kann.

Die Aufzeichnungen des Uwe Holl, alias Martin W. (7)

Teil sieben der Aufzeichnungen des Uwe Holl, der sich in seinem Text Martin W. nennt.

V. Abendwind III

Es klopfte an der Tür und "Herein" und "Guten Abend" und die Stube ist erfüllt vom Abendwind und ich hellwach und meine große Freude und ich höre mein Herz überall im Körper schlagen und: "Marsha, du kommst heute nicht durch das Fenster?"'
"Dies ist nicht das Badehaus."
"Ich freue mich, daß du gekommen bist."
"Dein Freund ist nicht da."
"Er ist noch unterwegs. Es kann fünf Minuten oder fünf Wochen dauern."
"Oder fünf Jahre? Du bist so konkret."
"Ich weiß nicht, wo er ist und wie lange er fortbleibt. Er ist nicht hier."

Wir aßen und tranken und sie erzählte, sie werde aus der Stadt weggehen. Die Arbeit im Hotel sei nicht gut, weil die Männer sich dort aufdringlich benehmen würden. Ich sagte, sie könne bei uns bleiben, der Alte wäre einverstanden, und ich fände es schön, wenn sie zu uns käme. "Ich werde es mir überlegen", sagt sie. Wir tranken vom Pflaumenwein des Alten, und ich pfiff die alten Lieder. Sie war ganz still.
"Ich möchte dich berühren", sage ich. Stille.
"Ich werde dich berühren." Keine Reaktion. Was sollte sie auch darauf antworten? Sollte sie darauf antworten? Ich fasse ihre Arme, ihre Schultern.

Ich hatte etwas zwischen Zuwendung und Ohrfeige erwartet aber nichts, nichts. Sie sitzt und ist wie Holz, wie geschliffenes Holz, sanfte Haut, warm und erstarrt. "So etwas habe ich überhaupt noch nicht erlebt! Du hättest mir wenigstens eine Ohrfeige verpassen können. Macht es dir keinen Spaß, wenn ich dich berühre?" Jeder Mensch braucht Zärtlichkeit und sie hatte sie sicher schon lange entbehren müssen. Warum dieses Nicht-Ablehnen und Nur-Dulden?

"Hast du Angst, ich falle über dich her, wenn du mir zeigst, daß dir meine Berührung Spaß macht?"
"Nein, davor habe ich keine Angst."
"Dann solltest du mich auch berühren."
Es ist mir im Leben immer so ergangen, daß ich Dinge, die sehr wichtig für mich waren, vergaß und daß mir winzige Gesten, der Klang eines Wortes, ein Blick über Jahrzehnte nicht in Vergessenheit gerieten. Noch heute kann ich Erlebnisse mit diesen Erinnerungen aus mir hervorholen. So geht es mir auch mit dieser Berührung: Ich sehe ihre Hand sich meinem Gesicht nähern, der Handrücken berührt meine Wange und ist doch eigentlich keine Berührung, nur ein Sekundenhauch.

"Kannst du das noch einmal machen?" Ja, sie kann es, und es ist wie die erste Berührung, zaghaft, die Spur eines Hauches. Und ich streichele sie und sie, diese Lichtspur dunklen, offenen Haares läßt es zu, tut nichts dafür, nichts dagegen, bleibt wie geschliffenes Holz.
"Irgendetwas an mir muß es doch geben, was du gut findest, sonst wärest du heute nicht hier."
"Du kannst schön erzählen, und die Lieder, die du singst, gefallen mir", antwortet sie. Verblüffung meinerseits: "Und das ist alles? Das kann doch nicht alles sein! Du bist zweimal zu mir ins Badehaus gestiegen, hattest genug Gelegenheit, mich zu betrachten. Hat mein Körper dich nicht interessiert?"
"Nein."
"Ich bin zwar kein Adonis aber auch kein Krüppel."
"Es ist so, er hat mich nicht interessiert."
"Und du. läßt dich von mir streicheln?"
"Ja, das ist schön."
"Meinst du nicht, daß das alles nicht recht zusammenpaßt? Wenn mir eine Frau gefällt und ich gefalle ihr, wird sein, was beide wollen und das, was einer nur will, wird nicht sein. Und es ist bestimmt ein Fehler, ein großer Fehler, mit seinen Gefühlen hinter dem Berg zu halten. Es gibt nur wenig Schlimmeres als zu bereuen, etwas nicht getan zu haben."

Ich streichele sie und sie berührt mich. Aus dem geschliffenen Holz werden zwei Arme, die mich halten und ein Mund voller Lust und ihr Haar duftet nach Wiesenkräutern.
 
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