Sonntag, 21. Dezember 2008

Der Reiter

Mein Erster Besuch im Gefängnis! Am liebsten nie wieder! Doch bei Gelegenheit werde ich Uwe Holl erneut besuchen.

Ich staune, wie gelassen Holl ist. Nur die Bäume vor dem Fenster und das Rauschen der See fehlten ihm, gab er zu. Ich nickte nur und dachte: Ganz schön viel, was da fehlt, Holl.

Ich muss ihn wieder besuchen. Im August erzählte er mir, warum er seinen früheren Zugführer auf der Koserower Seebrücke fast totprügelte. Es war leicht zu erahnen, dass noch viel mehr Geschichten zu der Tat führten.

Holl erzählte Geschichten, von denen ich noch nicht einmal etwas ahnte. Er erzählte aus seinem Grenzerleben an der Berliner Mauer. Ich bekam mal eine Gänsehaut, weil es fast unerträglich war, woran Holl sich erinnerte, mal musste ich lachen. Es gibt nur wenige, die diesen Teil der DDR-Geschichte kennen.
Aus all den Gründen will ich ihn wieder besuchen. Vielleicht könnte ich ihm dann Meeresrauschen vom Diktiergerät vorspielen, aufgenommen vor seiner Wohnung in Koserow. Nur die Bäume, woher soll ich Bäume nehmen?

Heute erzähle ich zum Angewöhnen eine Geschichte nach, die mich um Lachen reizte, den einsitzenden Rentner Holl nicht.

Der Mauer-Ritt

Die Berliner Mauer war etwa 3,7 Meter hoch. Auf die Mauer waren Betonrohre montiert worden, etwa 50 bis 60 Zentimeter im Durchmesser. Es hatte nur einen Zweck, es sollte das Überwinden der Mauer erschweren. Doch mitunter wurde das Rohr missbraucht.

Ein Sonntag Vormittag im Frühling ging in die Mittagszeit über. Die Sonne stand hoch und blendete uns im Postenturm. Mitten im Erzählen über seinen Traktor, den nun Kollegen aus dere LPG fuhren - wer weiß, was sie mit der Karre anstellen - stockte mein Posten. Posten und Postenführer saßen sich stets schräg gegenüber, um den Postenbereich und einander beobachten zu können. Kaum etwas an der Grenze war schlimmer, als jemanden mit einer Kalaschnikow hinter sich zu haben. Mein Posten riss den Arm hoch, zeigte rechts an mir vorbei zum Kanten, so nannten wie die Mauer, und sagt leise: "Ich glaube, da guckt jemand über den Kanten." In dem Bereich gab es keinen Hochstand in Westberlin. Wie sollte da jemand über die Mauer ...? Im selben Augenblick war mir klar, was gerade passierte. Über die Sprechfunkanlage meldete ich dem Zugführer in der Zentrale: "Wolf, Wolf! Und hier ist der Iltis. Versuchter Grenzdurchbruch West-Ost. Eine männliche Person zu erkennen." Völlig idiotisch waren diese blöden Decknamen und genauso bekloppt war es, dass wir unsere Meldungen immer mit dem Wort "Und" begannen, eine Marotte, unausrottbar.
"Isser schon rüber?", kam die Rückfrage.
"Er guckt rüber. Entfernung etwa 120 Meter rechts vom Postenturm. Ich sehe Kopf und Oberkörper. Schätze, der steht auf einer Leiter."
"Die Streife ist schon unterwegs."

Ich schaute durchs Fernglas, mein Posten neben mir schaute sich fast die Augen aus dem Kopf.
Ich drehte mich kurz zu ihm und fuhr ihn an: "Umdrehen! Rechts und links und das Hinterland beobachten!" Ich schaute zu, wie der Mann hinter der Mauer verschwand. Wie im Kasperletheater, dachte ich.
Mein Posten trauerte nun nicht mehr seinem missbrauchten Traktor hinterher, sondern wollte wissen: "Warum darf ich nicht mitgucken?"
"Was ist, wenn der ganze Spaß nur ein Ablenkungsmanöver ist und 100 Meter entfernt Grenz-Ede gen Westen rauscht? Ich sag dir, was dann ist, dann rauschen wir nach Schwedt!"
Offiziell hießen sie Grenzverletzer, in unserem Regiment hieß jeder Grenzverletzer Ede.
"Is ja schon gut."
"Nein, ist es nicht. Gut ist es erst, wenn ich keine Uniform mehr anziehen muss. Bis dahin passt du auf wie ein Luchs."
"Sind wir heute nicht der Iltis."
"Noch ein Wort und du kannst was erleben. Gucken, Junge!"

Ich hatte geahnt, dass es noch nicht vorbei war. Der Mann tauchte wieder aus der Versenkung auf, sah, dass ich ihn durch das Fernglas beobachtete, winkte, grinste und schwang ein Bein auf das Mauerrohr. Scheiße, ein Mauerreiter, dachte ich.
Zu meinem Posten sagte ich: "So, jetzt wird es ernst. Er reitet auf der Mauer. Hoffentlich fällt er nicht zu uns rüber. Der verarscht uns, tut als wäre die Mauer sein Gaul."
Ich riss ein Fenster auf und brüllte den Mauerreiter an: "Hau ab! Verschwinde wieder! Los, zurück zu Mutti!"
Doch der Kerl tat als sei er taub. Ich riss die Leuchtpistole aus dem Futteral, drei Stern rot - in der Woche das Leuchtsignal für Grenzdurchbruch West-Ost - in den Lauf, zugeschnappt, aus dem Fenster gebeugt und schräg nach oben in Richtung des Mauerreiters geschossen. Weder der Knall noch das Zischen des aufsteigenden Geschosses beeindruckten ihn.

Er beugte sich Sekunden später in Richtung Westberliner Seite, dass ich dachte: Nun fällt er runter. Schön wärs gewesen! Als er sich aufrichtete, sah ich, wie er auf die Mauer gelangen konnte. Er zog eine Leiter zu sich herauf.

Ich schrie in die Sprechfunkanlage: "Wo bleibt die Streife? Er zieht eine Leiter hoch!"
"Die Streife ist gleich da."
Nun kippte er die Leiter in die Waagerechte. Ich brüllte zu ihm herüber: "Mach keinen Scheiß! Stell die Leiter zurück! Stell die Leiter zurück."
Zu meinem Posten: "Pass bloß auf! Wer weiß, für wen die Leiter gedacht ist?"
Wenn ich heute daran zurückdenke, wundere ich mich, dass ich keine Angst hatte; wahrscheinlich fehlte einfach die Zeit, um mich zu fürchten.

Der Kerl fühlte sich sicher. Er wusste, dass ich nicht schießen würde. Niemals über die Mauer hinweg in den Westen schießen, war ein Gesetz an der Grenze, denn nach Schießereien an der Grenze kamen Dutzende Westberliner Polizisten und suchten Gebäude nach Einschüssen ab. Fanden sie welche, gab es regelmäßig diplomatische Verwicklungen und anschließend Strafen für den Fehlschützen.

Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich konnte nur abwarten. Der Westberliner übernahm weiterhin die Initiative. Trotz meiner Schreierei kippte er die Leiter in unsere Richtung. Eine Sekunde später stand sie im Grenzgebiet, eine Einladung zum Abhauen.
Kann doch nicht sein, dass jetzt einer abhaut, am Sonntag Vormittag und der stellt ihm die Leiter an.

Auf dem Kolonnenweg kam die Streife im Trabant-Kübelwagen angeknattert. Meinem Posten befahl ich: "Du guckts nach links und Richtung Hinterland, ich nach rechts und hinten, klar?"
"Mann, ich krieg ja gar nichts mit."
"Wenn du jetzt nicht aufpasst, kriegst du nicht mit, wenn Grenzede angeflitzt kommt. Und dann bekommen wir beide gar nichts mehr mit, so schnell sind wir in Schwedt. Schluss jetzt mit dem Gemecker."
Und falls kein Grenzede kommt, weiß ich noch lange nicht, was der Mauerreiter in den Taschen hat. Ich legte die Kalaschnikow vor mich auf die Brüstung, einen Blick auf den Reiter, einen in Richtung Hinterland.

Jetzt war es an der Streife, die Reiterei zu beenden. Sie redeten auf den Reiter ein, der jedoch nun Anstalten machte, von der Mauer in den Osten abzusitzen. Jetzt brüllten der Streifenführer und ich um die Wette: "Bleib da, wo die bist!", und "Hau endlich ab, woher du gekommen bist! Zurück!"
Hastdunicht gesehen stand der Reiter auf der Leiter und damit auf DDR-Gebiet. Jetzt rückte die Streife vor und mir wurde mulmig: Was, wenn einer der beiden die Leiter bestellt hat? Ach, ist wohl Quatsch. Doch zugleich erinnerte ich mich an zahllose Pferde, die vor Apotheken ihren Mageninhalt zur allgemeinen Besichtigung freigegeben hatten. Bloß das nicht! und noch einmal, bloß das nicht.

Der Streifenführer stand nun am Fuß der Mauer, sein Posten hatte die Kalaschnikow im Anschlag, meine Waffe lag noch immer vor mir auf der Brüstung, meine rechte Hand auf dem Kolben der Waffe. Der Postenführer machte einen Satz zur Leiter, dann einen auf die zweite Sprosse, sprang hoch und riss den Reiter herunter. Die Streife griff den Reiter und schleppte ihn von der Mauer weg. Inzwischen raste ein zweiter Kübelwagen heran, später noch einer. Einer holte die Leiter von der Mauer.

Im selben Moment ertönte Protest hinter der Mauer: "Gebt uns die Leiter wieder. Der hat sie uns geklaut." Zwei Köpfe erschienen hinter dem Rohr auf der Mauer.
Nicht schon wieder.
Der Streifenführer schrie zurück: "Beweismaterial!"
Eine Zeitlang murrten die Bestohlenen und der Streifenführen schrie uns auf dem Postenturm zu: "Völlig besoffen!" und zeigte auf den einstigen Mauerreiter.
Dann wurde endlos gemessen und fotografiert. Meine einzige Sorge war nun, dass der Kontrollstreifen anständig geharkt wurde. Eine Fußspur darauf und ich hätte mich nicht mehr wiedergefunden. Fußspuren auf dem KS, naja, warum hieß er wohl Kontrollstreifen?

Nach unserem Dienst mussten wir die Geschichte zu Protokoll geben, weg war die schöne Freizeit - alles wegen eines betrunkenen Westberliners, der unbedingt auf der Mauer reiten wollte und dann nicht mehr West von Ost unterscheiden konnte.

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