Sonntag, 25. Januar 2009

Klappts mit dem Korkenzieher, dann auch mit dem Nachbarn

Wie schnell ein Karriere endet, noch bevor sie beginnt, erleben Sie jetzt.
Nach meinem Weggang von der Insel-Rundschau wollte ich eine Karriere als Werbetexter beginnen. Ich bewarb mich mit mehreren Arbeitsproben. Ich habe nie wieder von dem Werbebüro gehört. Ich werde auch nicht noch einmal nachfragen. Ein Anruf genügte:
"Was? Sie haben was über Korkenzieher geschrieben? Nie davon gelesen.Überhaupt, Korkenzieher, wie sind Sie auf die Idee gekommen? Mit Korkenziehern haben wird nichts zu tun."
Das verstand ich so: "Mit Ihnen wollen wir nichts zu tun haben."
Hier die Arbeitsprobe:

Klappts mit dem Korkenzieher, dann auch mit dem Nachbarn

Lavendelduft zieht über die Terrasse. Anette atmet ihn tief ein, schaut über das Feld zur Hügelkette. Es war eine gute Idee, das Häuschen in Südfrankreich für den Urlaub zu mieten, denkt sie. Mal sehen, ob es auch eine gute Idee war, Paul aus dem Nachbarhaus auf eine Flasche Wein einzuladen.

Der Bordeaux glüht in der Flasche wie die untergehende Sonne über den Hügeln. Paul tritt auf die Terrasse, bewaffnet mit einem Blumenstrauß und einem Päckchen. Jetzt schnell den Bordeaux öffnen, denkt Anette, dreht den Flaschenöffner aus dem Küchenschrank in den Korken und zieht und zieht. Vor Anstrengung rötet sich ihr Hals wie ein Roséwein. Stirn und Achseln werden feucht vom Schweiß.

„Guten Wein hat dein Vermieter bestimmt“, sagt Paul. „Doch der Flaschenöffner ist wohl so alt wie das Haus. Schau doch bitte in das Päckchen.“ Anette packt einen Korkenzieher aus. „Mit dem Öffner bekommst du jeden Korken gezogen.“ Und tatsächlich, Anette dreht in Sekunden den Korken aus der Flasche. Paul muss nicht einmal erklären, wie das Gerät funktioniert, so einfach geht es.
„Ist ja auch kein gewöhnlicher Korkenzieher“, meint Paul, während er die Gläser füllt.

Es ist ein Screwpull, mit dem Anette die Flasche öffnete. Der Unterschied zu allen anderen Korkenziehern: Anette muss nur die Spitze des Screwpull auf die Mitte des Korkens setzen und nun mit leichtem Druck am Griff drehen, bis der Korken aus der Flasche ist. Eine kleine Vorrichtung des Screwpull macht es möglich. „Ich weiß nicht, wie du die Folie vom Hals der Flasche bekommen hast“, sagt Paul. „Zum Screwpull gehört ein Folienschneider, der die Folie mit einem Handgriff vom Flaschenhals trennt.“

Anette ist begeistert von dem Geschenk und ein wenig auch schon von Paul. Sie weiß gar nicht mehr, ob Pauls Gesicht vom Sonnenbrand oder vor Aufregung so ein munteres Rot hat. Ihres beginnt vom Bordeauxc oder wovon auch immer zu glühen. Und sie denkt, wenn Paul noch mehr solcher Ideen hat, kann das noch ein aufregender Urlaub werden.

Montag, 19. Januar 2009

Beinahe Maueropfer

Uwe Holl sagte mir, es habe ihn von Anfang an gewundert, dass immer von Maueropfern geredet wurde und jene gemeint waren, die in den Westen abhauen wollten und genau wussten, dass nicht mit Schneebällen nach ihnen geworfen werden würde, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen.

Uwe Holl verblüffte mich mit dem Satz: "Beinahe wäre ich auch ein Maueropfer geworden."
"Was? Haben Sie nach der Zeit als Grenzer Ihr Wissen nutzen wollen?"
"Witzig! Wer aus dem Hinterland kam, um über die Mauer zu klettern, wurde fast immer geschnappt.
"Sie meinen, tot oder lebendig."
"Ja, ist doch klar. Ich hätte nach meiner Grenzerzeit niemals versucht, über die Berliner Mauer abzuhauen, gerade weil ich an der Grenze war und das Risiko bestens kannte. Nee, bin doch nicht lebensmüde. Abhauen war nur während des Grenzdienstes möglich und das an wenigen Stellen und bloß, wenn der zweite Man mitmachte."
Er holte tief Luft, schaute mich an und sagte: "Oder wer abhauen wollte, musste den zweiten Mann umbringen. Hätte ich niemals gemacht, kam aber vor, selten, Kameraden von hinten abgeknallt, habe ich ja schon in Koserow erzählt. Deshalb war das Streifelaufen als Posten vor dem Postenführer jedes Mal eine furchtbare, stundenlange Anspannung."

"Und so wären Sie beinahe Maueropfer geworden?"
"Neinnein, das war anders."

Hier die Geschichte:

Beinahe Maueropfer

Es war in einem langen, ziemlich geraden Abschnitt in Berlin-Mitte. Dort wurde tagsüber der Grenzzaun abgebaut und die Mauer aufgestellt. Die Mauer wurde nämlich bis auf winzige Bereiche nicht 1961 gebaut, sondern bis in die 70-er Jahre hinein. Das längste Stück war jahrelang ein Stacheldrahtzaun oder Sreckmetallzaun geblieben.

Wenn die Pioniere ihren Dienst erledigt hatten, blieb immer ein Übergang zwischen eingerolltem Zaun und der Mauer. Ein ganz Verwegener hatte das wohl gesehen und meinte, zwischen Mauer und Zaun bestünde eine Lücke, durch die er sich nach Westberlin zwängen könnte - ein Irrtum. Da passte kein Hänfling durch.

Es war lange nach Mitternacht, als rechts von meinem Postenturm Schüsse krachten. Mein Posten und ich sahen das Mündungsfeuer vom Nachbarturm, und auch am Klang erkannten wir, dass mit einer Kalaschnikow geschossen wurde. Es folgte das Leuchtsignal für Grenzdurchbruch Ost-West. Das war die endgültige Gewissheit darüber, was unsere Nachbarn gerade durchmachten. Aber wir konnten niemanden erkennen, der sich in den Westen aufmachen wollte.

Nur alle 20 bis 30 Sekunden krachte ein kurzer Feuerstoß, drei, vier Schuss. Was sich wie ein Echo anhörte, war keins. Es waren einzelne Einschläge in unserem Postenturm. Wir wurden von unseren Nachbarn beschossen. Grenzede musste genau zwischen unserem und dem Nachbarturm im Halbdunkel liegen. Wenn unser Nachbar schoss, tat die Kalaschnikow, was sie immer tat, sie zog hoch. Das heißt, wurde die Waffe nicht richtig festgehalten, flog jedes Geschoß über dem vorigen durch die Gegend.

Ich brüllte meinen Posten und mich an: "Kopf runter, Helm auf." Schon waren wir auf den Knien, Helm auf, Riemen festziehen. Und was nun? Was, wenn in unserem Postenbereich ein Kumpel von Grenzede in Richtung Zaun rannte? Solange wir im Turm knieten, konnten wir natürlich nichts beobachten. Ich meldete, dass wir beschossen wurden.
Die Antwort: "Wir sagen Bescheid. Trotzdem beobachten."
"Ja, schönen Dank", schrie ich den Zugführer durch das Grenzmeldennetz an.
Meinem Posten befahl ich, in Deckung zu bleiben.
Ich stieg hinunter, stieß die Blechtür auf, die Richtung Hinterland aufging und sprang nach dem nächsten Feuerstoß um den Turm herum, dass ich ihn als Deckung zwischen mir und meinen Nachbarn hatte. So konnte ich wenigstens einen Großteil des Geländes überblicken.

Ich habe keine Ahnung, wie lange ich dort stand. Ich merkte jedoch bald, dass die Einschläge sich in Richtung Grenze verlagerten. Später wurde mir klar, dass Grenzede sich Richtung Grenzzaun vorarbeitete. Ich huschte in den Turm, brüllte hoch: "Beobachten, das Schlimmste ist vorbei" und stieg hinauf.

Nun konnte ich mir einen Überblick verschaffen, auch auf den Hochstand in Westberlin. Dort hatten sich US-Soldaten mit gezogenen Pistolen, angelockt durch die Schießerei postiert. Da der Grenzede sich vorgearbeitet hatte, geriet er immer mehr in das Licht der Lampen und auch ich konnte ihn nun erkennen. Er lag zwischen den Panzersperren, diesen zusammengeschweißten Abschnitten von Eisenbahnschienen. Immer, wenn er ein paar Schritte vorpreschte, schoss unser Nachbar über seinen Kopf hinweg. Grenzede ging wieder in Deckung. So ging das nun schon die ganze Zeit. Mitunter hörten wir die Querschläger zwitschern. Wenn Grenzede so weitermachte, konnte er in einer Minute am Zaun sein und die Leute auf dem Nachbarturm hätten ein Problem: Sie hätten durch den Zaun in den Westen schießen müssen, um den jungen Mann zu stoppen.

Endlich kam die Streife angeknattert, gleich danach der Zugführer. Er postierte sich genau gegenüber vom Hochstand, die Kalaschnikow vor der Brust. Drüben die Amis, die Pistolen bereit, hier der Zugführer. Zwischen dieser Grupe und dem Mann in der Panzersperre waren etwa 50 Meter Abstand. Ich konnte nicht verstehen, was er den Amis zuschrie. Als sie keine Anstalten machte, die Pistolen einzustecken, entsicherte er die Kalaschnikow und lud sie durch. Eine Patrone war im Lauf; er brauchte nur noch abzudrücken. Der Zugführer schrie zwar die US-Soldaten an, blieb aber gelassen. Es war nicht seine erste Begegnung dieser Art, aber meine.

Zur gleichen Zeit holte die Streife den jungen Mann aus der Panzersperre. Er hatte nichts bei sich, hatte geglaubt, sich zwischen Zaun und Mauer durchzwängen zu können, was völliger Quatsch war. Es hatte nicht einmal einen Streifschuss abbekommen und war nur deshalb so lange in der Panzersperre geblieben, weil er nirgends eine Lücke zum Durchschlüpfen finden konnte.
Mein Posten und ich hatten außer dem Schreck auch nichts abbekommen. Doch seit der Nacht fühlten wir uns als Beinahe-Maueropfer.

Die Amerikaner zogen unter Gezeter ab, als sie sahen, dass sie nichts ausrichten konnten.
Unsere Nachbarposten erhielten Sonderurlaub und maulten ein wenig, als ich ihnen am Tag darauf sagte, dass sie uns beschossen hätten, als ob wir abhauen wollten.

Warum ich das erzähle? Maueropfer waren nicht nur jene, die beim Versuch, die Grenzer auszutricksen an die Falschen gerieten.

Sonntag, 11. Januar 2009

Trennblätter

Nehmen Sie es, wie Sie wollen:

Ich berichte Beiläufiges, weil ich Sie länger neugierig machen möchte auf die nächste Holl-Geschichte.
Ich berichte Beiläufiges, weil ich möchte, dass Sie sich von der Bestürzung über die Holl-Geschichte vom 4. Januar erholen können, sofern Sie bestürzt waren (würde mich interessieren).

Trennblätter

Gleich an zweiter Stelle auf der Materialliste stand:

100 Stck. Trennblätter

Was alle anderen Positionen auf der Liste bedeuteten, war mir klar, Kopierpapier, Notizblöcke ... aber Trennblätter?

Ich hätte forsch 100 Trennblätter fordern können. Doch in der Materialausgabe hätten sie mir Werweißwas eingepackt und sich anschließend über meine Bildungslücke amüsiert. Welch ein Gelächter hätten die Kollegen angestimmt, wenn ich ausgepackt hätte, wovon ich dachte, es seien Trennblätter. Hatten die Kollegen etwa die Trennblatt-Besorgung angezettelt? Gierten sie danach zu erleben, wie ich mich blamierte?

War das eine Fortsetzung der nun zehn Jahre zurückliegenden Blamage, als ich, der Lehrling, losgeschickt wurde, den Kolbenschlüssel zu bringen? In der Werkzeugausgabe krähte die Ausgeberin sofort los: Hejerbät!? Hejerbät!! Hijä iss einä vonne Reperatuä! (Herbert!? Herbert!! Hier ist einer von der Reparatur!) Bring doch mal den Kolbenschlüssel! Sie wandte sich zu mir und erklärte: Der iss mir zu schwejä.
Ihr Kollege brachte einen gewaltigen Schlüssel für riesige Sechskantmuttern. Ich hätte nicht glauben sollen, dass solch Ungetüme existieren. Doch ich schleppte den 15 Kilogramm schweren Schlüssel in die Reparaturhalle. Sekunden später wusste ich, dass auch in der Werkzeugausgabe auf meine Kosten gelacht wurde, dass der Schlüssel vor Jahren angefertigt wurde, um Lehrlinge zu foppen.

Gab es eine Verbindung zwischen dem Schlüssel, der Trennblattbestellung und dem Reinfall, den ich auf einer Erdgasbohrung erlebt hatte, dem Anfang einer einjährigen Kurzkarriere im Bohrgeschäft, die mir später jedoch nützte, als ich zum Gülle-Lothar wurde (Sturmfeld-Leser wissen Bescheid).
Bohrgut und Schwerspat setzten sich in einer meterbreiten Rinne aus dem Bohrschlamm ab, wenn er aus dem Bohrloch gepresst wurde. Ich hatte das abgesetzte Gemisch aus der Rinne zu schaufeln. Rückwärts arbeitete ich mich durch die Rinne, bis ich in einem metertiefen Absetzbecken landete und die braungraue Bohrspülung meine Stiefel füllte. Dass solche Becken der Rinne zwischengeschaltet waren, um die Feststoffe aus der Spülung aufzufangen, hatte ich nicht beachtet. Seitlich hinter mir erscholl brüllendes Gelächter. Die Bohrarbeiter saßen wie die Hühner auf einem Stahlrohrgeländer, winkten, hielten sich die Bäuche oder klatschten ihre Schenkel. Erst durch das schadenfrohe Gelächter merkte ich, dass sich die Arbeiter hinter meinem Rücken versammelt hatten, um meine Landung in der Bohrspülung mitzuerleben.

Vielleicht gibt es Trennblätter tatsächlich, dachte ich, nur ich weiß nicht, welchen Nutzen sie haben. Wenn es sie gibt, bleibt die Frage, was Blätter voneinander trennen können?

Waren sie eine Erfindung der Arbeitgeber? Dann stand auf ihnen:

Arbeitnehmer,
wenn du uneffektiv arbeitest,
die Pausen nicht einhältst,
es dir an Loyalität zum Unternehmen mangelt,
werden wir uns von dir trennen!

Die Blätter lägen zwischen den Papieren in Akten, die oft benutzt wurden und in jedem Arbeitsraum hinge ein Exemplar an der Wand gegenüber dem Schreibtisch oder der Werkbank. Die Zettel hätten auch Denkdran-Zettel heißen können, doch die Bezeichnung Trennblätter hatte dieses Einschneidende, gar Zerschneidende, Schmerz verbreitende, Endgültige: Getrennt ist getrennt. Da lässt sich nichts mehr flicken. Eine Operation steht nicht in unserer Macht.

Hatten die Blätter mit Scheidungen zu tun? Gab es eine Mode, die ich nicht kannte, wonach getrennt Lebende einander Vordrucke schickten, auf denen sie unterschiedlichste Forderungen erheben konnten? Findige Geschäftemacher hatten Anwaltstexte in verständliches Deutsch übertragen, für jede Forderung mindestens ein Trennblatt. Auf jedem Trennblatt war auch ein passrechter Sinnspruch zu finden, hinterlegt mit beruhigenden Grüntönen.

Wer hatte denn gesagt, dass Trennblätter aus Papier hergestellt wurden? Bestanden verschiedene Sorten dieser Blätter aus getrockneten, gemahlenen Pflanzenteilen, die in einer Fabrik mit Wasser versetzt und zu Trennblättern gepresst und getrocknet wurden? So ähnlich, ohne die beiden letzten Arbeitsgänge, entstanden doch Säfte, warum also nicht Trennblätter. Natürlich war ihm sofort klar, dass diese Blätter die Grundlage der Trennkost waren, mit deren Hilfe Dickleibige versuchten, ihr Fett loszuwerden.

Konnten Besucher von Rockkonzerten oder sogenannten Volksfesten nicht mehr auf Trennblätter verzichten? Hüllten sich diese Leute in die Blätter, um andere Besucher nicht zu nahe an sich heranzulassen? Wollten sie ihre Kleidung schonen, die durch das Berühren der anderen hätte verschmutzen oder abnutzen können. Verkauften Veranstalter von Festen und Konzerten Trennblätter, auf die Reklame für die jeweilige Veranstaltung gedruckt worden war? Das wäre ein zweifaches Geschäft: Trennblätter verkaufen, mit der die Leute kostenlos für das Unternehmen Reklame liefen. Es wäre nichts Neues. Trugen doch die meisten Leute Kleidung mit Firmenaufschriften.
Seit wann gab es die wandelnden Litfaßsäulen nicht mehr, Menschen, über die eine Pappsäule gestülpt wurde, auf der für irgendwelche Produkte Reklame gemacht wurde? Die Menschen in den Pappsäulen erhielten Geld, wenn auch wenig, für ihre Arbeit. Leute, die heute Kleidung mit Firmenzeichen tragen, bezahlen sogar dafür, als lebende Litfaßsäulen für Unternehmen zu werben, warum also nicht mit Trennblättern?

Da ich in einem Verlag angefangen hatte zu arbeiten, entschied ich mich für die Trennblätter mit Reklameaufdrucken, betrat die Materialausgabe und sagte: 100 Trennblätter für die Abteilung 14/3-afsch Ü (9). Ich erhielt beigefarbene Pappblätter im A-4-Format mit mächtig vielen Löchern an der linken Seite, waagerechten Linien und einer nummerierten Unterteilung des rechtes Randes. Ich schaute auf den Rand der Verpackung:

100 Stück Trennblätter
gelb mit schwarzem Liniendruck
Art.Nr. 95 10208100

Enttäuscht zog ich von dannen.

Sonntag, 4. Januar 2009

Tod im Dunkel

Am 21. Dezember lasen Sie, dass ich Uwe Holl im Gefängnis besuchte. Er erzählte mir vom Mauerreiter. Vielleicht haben Sie es geahnt; es war nur zum Anwärmen. An der Grenze ging es nicht lustig zu. Uwe Holl erzählte mir auch diese Geschichte:

Tod im Dunkel

Versuchte Grenzdurchbrüche und solche die gelungen waren, wurden in den Grenzkompanien ausgewertet. Zusätzlich erfuhren wir manches, wenn wir im Ausgang Grenzer anderer Regimenter trafen.

Einer der begehrten Posten lag in einem Güterbahnhofgelände. Begehrt war der Postenturm, weil wir von dort aus ein modernes Wohnhaus mit zimmergroßen Fenstern beobachten konnten. Die Ferngläser waren ganz gut. Bekannt war eine Wohnung, in der nachts gegen drei Uhr eine Frau in ihr Wohnzimmer trat und sich dort auszog.
Das Irrsinnige war, dass sie sich dazu auf ein Sofa setzte, dessen Lehne zum Fenster gerichtet war. Das heißt, dass Licht ging an, wenn sie schon saß. Wir konnten also nur ihre Arme und Beine sehen und waren überzeugt, dass sie genau wusste, dass sie beobachtet wurde. Immerhin zog sie sich so elegant aus, dass wir alle annahmen, es müsse eine Tänzerin sein. Das Licht ging aus und niemand hat sie je aus dem Zimmer gehen sehen.

In einer Sommernacht wurde das Postenpaar an den Gleisanlagen aufgeschreckt, weil der Signalzaun auslöste. Eine Kontrolllampe leuchtete also auf dem Postenturm. Einer versuchte zu sehen, was dort der Auslöser war. Oft huschten Kaninchen durch den Zaun und drückten dabei die dünnen Drähte aneinander, was die Kontrolleuchte auslöste. Der Postenführer meldete, dass irgendetwas den Signalzaun ausgelöst hatte. Der Zugführer versprach, die Streife zu schicken.
Der Postenführer schoß mit der Leuchtpistole, um Sicht zu bekommen, denn zwischen den Gleisen war es stockdunkel. Nur der Streifen vor der Mauer nach Westberlin war beleuchtet - noch.

Im Licht der Leuchtkugel sah der Postenführer einen Mann Richtung Grenze rennen. Doch ehe der Posten schießen konnte, war die Leuchtkugel erloschen. Leuchtkugel nachladen, wieder schießen. Der Mann war weg. Im letzten Schimmer erkannten die Grenzer jedoch einen zweiten Mann, der über die Gleise gen Westen stolperte. Der Posten schoß einen Warnschuss ins Dunkel.

Die Streife kam und kam nicht. Deshalb entschied der Postenführer, den Turm zu verlassen und die beiden Grenzedes zu suchen. Er rechnete damit, die beiden im Gegenlicht der Mauerbeleuchtung als Schattenrisse zu erkennen. Doch die beiden Männer hatten sich hingelegt und warteten ab. Jetzt ertönten Schüsse von der westlichen Seite. Das war doch nicht möglich! War die Streife ihnen ins Gehege gekommen? müssen sie gedacht haben. Wie sollten die Grenzer in dem düsteren Kuddelmuddel die Streife von den Grenzedes unterscheiden?
Der Gedanke war vorerst überflüssig, denn die Schüsse kamen aus Westberlin, aus den Waffen von Polizisten. Sie schossen auf die Lampen der Lichtertrasse am Kontrollstreifen. Und sie trafen. Eine Lampe nach der anderen erlosch. Es wurde immer dunkler.

Nun muss den Posten Panik befallen haben. Er stürmte auf den Gleisen umher, hörte nicht mehr auf die Rufe seines Postenführers, muss dann fast auf einen der beiden Grenzedes getreten sein, der auswich und aufsprang. Beide standen sich drei oder vier Meter entfernt gegenüber. Der Grenzer schoss, noch ehe sich der Mann zur Grenze wenden konnte. Er schoss nicht einmal, sondern feuerte eine Dutzend Schüsse ab, die dem Mann den Brustkorb zerrissen.
Er schoss, weil er Todesangst hatte, obwohl oder weil er nicht erkennen konnte, ob der Mann bewaffnet war. Er soll eine zusammengerollte Strickleiter unter dem Arm getragen habe, mit Haken daran. Er wäre damit niemals über die Mauer gekommen. Vielleicht hat der Posten die Rolle unter dem Arm als Waffe gedeutet. Der zweite Grenzede wurde von der Streife gefasst, die gerade eingetroffen war.

Was für ein Dreck! Ein junger Mann tot, der nicht einmal die Chance hatte, über die Mauer zu klettern und dazu das Leben des Grenzers versaut, der sich bis zu seinem Tod nicht verzeihen wird, einen Mann erschossen zu haben. Was die Westberliner Polizisten angeht, hatten sie indirekt Anteil am Tod des Mannes. Wahrscheinlich wäre die Festnahme bei funktionierender Lichtertrasse ohne einen scharfen Schuss abgegangen, wenn die Lampen nicht zerschossen worden wären.

Wozu das alles? Es war völlig irrsinnig. Ich muss gerade an Peter denken, den Bäckergesellen, von dessen Tod während einer Schießübung.
(Sie wissen nicht, wer Peter ist? Lesen Sie im "Sturmfeld " die Geschichte vom Bäckergesellen mit der rachitischen Brust nach.)
Heute glaube ich, dass es ein Schicksal geben kann, oder eine Fügung. Es ist, als hätte der zukünftige Grenzer Peter dafür sterben müssen, dass ein anderer Grenzer Monate später einen Grenzede erschießen wird. Beide starben nachts, beide mit zerrissener Brust.

Nur wenige Bekannte konnten verstehen, dass ich nie wieder an die Grenze wollte, dass ich alles Militärische bis heute und für immer hasse. Ich war Familienvater, als ich als Reservist noch einmal an die Grenze sollte.
"Da gehe ich nicht wieder hin", antwortete ich damals. Die Leute vom Wehrkreiskommando schauten sich und dann mich verdattert an.
Ich erklärte ihnen, dass ich eine Familie habe.
"Ja und?", fragte mich einer der Offiziere.
"Entweder wissen Sie nicht, was an der Grenze los ist, oder es ist Ihnen egal. Ich gehe jedenfalls nicht mehr hin. Wenn Sie Kanonenfutter brauchen, schicken Sie die 18-Jährigen hin, die weder Frau noch Kinder haben und die nicht wissen, was ihnen an der Grenze passieren kann. Ich möchte weder jemandes Leben auf dem Gewissen haben noch mich abknallen lassen."
"Das ist eine Ausrede, wird Ihnen nicht helfen."
"Nein? Wann soll ich denn dort hin?"
"Im Frühjahr."
"Dann kann ich sowieso nicht. Ich bekomme eine größere Wohnung. Oder können Sie mir garantieren, dass ich zum Umzug Urlaub erhalte?"
"Nein."
"Sehen Sie, dann wird nichts draus."
"Bringen Sie uns eine Bestätigung über den Umzugstermin."
"Mach ich."

Dem Vermieter trug ich mein Anliegen vor. Offensichtlich wollten auch die Leute, dass ich zum Reservedienst eingezogen werde. Ich bekam keine Bestätigung, sondern sie boten mir eine Wohnung an, in die ich sofort ziehen konnte.
So bekam ich früher eine Wohnung, die sogar ein Zimmer größer war als die beantragte, und an die Grenze musste ich nie wieder.
 
blogoscoop