Sonntag, 30. November 2008

Die Aufzeichnungen des Uwe Holl, alias Martin W. (6)

Teil sechs der Aufzeichnungen des Uwe Holl, der sich in seinem Text Martin W. nennt.

IV. Ich erlebe unfeierliche Feierlichkeiten, Abschnitt 2

Die Parade zeichnete sich durch Fahrzeuglärm aus, dazwischen heraushörbar zerhackte Klänge von Marschmusik und die versteinerten Gesichter der Soldaten. Sicher, es hätte anders ausgesehen, wenn die Soldaten fröhlich gelacht und Blumensträuße geschwenkt hätten. Die versteinerten Gesichter waren mir lieber, entsprachen sie doch dem, was die Soldaten lernten: das Waffenhandwerk! (Ein schlimmes Wort: Handwerk ist immer etwas im Kleinen arbeitendes, materielle Werte hervorbringendes. Waffenhandwerk müßte massenweise Zerstörung und grenzenlose Menschenschlächterei heißen.)

Der Demonstrationskrampf löste sich auf. Die Menschen strömten auseinander, um sich am Rande des Platzes wieder zusammenzufinden. Hier war Verkaufsstand an Verkaufsstand aufgebaut worden, und es wurden Waren verkauft, die alle einen gemeinsamen Namen trugen: Defizit. Nun war also das eigentliche Fest herangebrochen, und es bestand in einer, kleinen Kauforgie. Geduldig wie die Schafe, ging es mir wieder durch den Kopf. In langen Reihen, wie aufgefädelt, lauerten die Leute auf den festlichen Augenblick, etwas Defizitäres zu erkaufen.

An einem Stand gab es Unruhe; dort war es vorbei mit der Schafsgeduld. Eine Frau hatte die wart ende Menge ignoriert und war bis zum Stand vorgedrungen.
"Das, Ende ist dort hinten! Hier müssen alle warten, bis sie an der Reihe sind! Das ist ja eine Frechheit! Was nehmen Sie sich heraus?", tönte es hinter ihr. Und sie: "Ich muß gleich nach Haus! Im Stall die Kuh muß jeden Moment kalben."
"Was geht uns Ihre Kuh an? Milch, kaufen wir im Laden."
"Ich kann nicht lange anstehen. Unsere beiden Kühe werden heute kalben. Da muß ich doch im Stall sein!" rief sie nun. Aber bevor aus der Kuh eine kalbende Herde wurde, schoben sie zwei Männer zur Seite.

An einem anderen Stand eine ähnliche Szene: Eine junge Frau hatte sich an den Stand gedrängt und ''Ich habe einen Invalidenausweis. Ich darf nicht lange stehen," rief sie. Ein Mann rief zurück: "Zeigen Sie uns den Ausweis. Dann können Sie vorgehen." Und eine Frau fügte hinzu: "Besser noch, Sie legen sich ins Bett und schicken uns Ihren Mann. Der kann sich dann hinten anstellen."
"Widerlich ist das," sagte ich zum Alten. "Wie mögen diese Menschen sich verhalten, wenn das tägliche Brot oder das Wasser eine Weile nicht für alle ausreichen würden?"
"Wir wollen weitergehen," antwortete er. Dazu hätte er mich nicht auffordern zu brauchen; was wir erlebt hatten, war schon nicht mehr feierlich, wie man in unserem Land sagt.
Weiter, weiter, und seine Sinne waren wieder auf der Suche nach dem Morgenwind. Aus der Neugier auf seine große Liebe wurde mir ein Schmerz und der hieß: Was wird, wenn er ihr nicht begegnet; was wird, wenn er ihr begegnet.

Wir waren auf einem zweiten großen Platz angelangt. Hier fand statt, was die Einheimischen als Rummel bezeichneten: Es waren viele Karussells aufgebaut, grellfarbige Wagen und grellfarbige Kulissen. Zwischen den Karussells die Glücksbuden. Was verführte die Menschen, es als angenehm zu empfinden, in einen Wagen gepreßt im Kreis herumgedreht zu werden, dabei den donnernden, quietschenden, rasselnden Transportgeräuschen und der diese Geräusche übertönenden Musik und dem Staub des Platzes ausgeliefert zu sein? Was verführte die Menschen, ihr Glück herauszufordern, indem sie Zettel aus einem Kasten auswählten und enttäuschte Gesichter hatten, wenn auf dem auseinander gefalteten Zettel das Wort 'Niete' stand, statt einer Glücksnummer? War es ein Glück, einen Stoffbären, einen Baukasten oder einen Salzstreuer zu gewinnen?

Aber sie hatten, die Menschen, einen passenden Namen für diese Volksbelustigung gefunden: Rummel. Und das heißt in unserer Sprache nichts anderes als lärmender Betrieb oder Durcheinander. Wem kam es in einer der vielen Schießhallen in den Sinn, wie - nun, sagen wir - ungewöhnlich es ist, auf Blumen zu schießen, auch wenn es nur Papierblumen waren? So also feierte das Volk den Großen Volksfeiertag.

Weiter, weiter zum Stadtpark, auf dem Rasen, unter Kastanien, fanden wir Platz zum Ausruhen. Nicht weit von uns lagerte eine Gruppe junger Leute. Zwei von ihnen spielten Gitarre, die anderen lauschten den Klängen, und auch ich war schnell gefangen von den Harmonien. Schließlich schlief ich ein. Als ich erwachte, hörte ich keine Gitarrenklänge mehr. Einige Zivilisten mit grünen Armbinden und dem Landessymbol darauf waren damit beschäftigt, die Jugendlichen vom Rasen zu treiben. Zu mir kamen ebenfalls zwei der Männer: "Verschwinden Sie hier endlich, Sie Rasenschänder, oder sollen wir erst die Polizei holen?" Und in diesem Augenblick bemerkte ich, daß der Alte verschwunden
war.

Ich ging zum Parkweg. Auf zwei Bänken hatten sich die Jugendlichen niedergelassen. Als ich in ihre Nähe kam, riefen sie mich zu sich.
"Der Opa der vorhin bei dir war, läßt bestellen, er sei schon losgegangen. Er sucht irgend etwas, und du kannst ihm dabei nicht helfen. Es kann länger dauern, sagte er, und du sollst schon vorausgehen. Den Weg würdest du kennen. Komische Sache, nicht?''
"Nicht komische, traurige Sache." Er läßt mich hier allein und geht seiner Wege. Wer weiß, was er vorhat? Falls es doch zu einer Begegnung mit seinem Morgenwind kam, sollte ich nicht dabei sein. Das war verständlich. Aber er hatte sich,während ich schlief, auf den Weg gemacht.

Was sollte das Grübeln nützen? Nun, wo ich ohne Führer war, machte ich mich bald auf den Rückweg und war in der Abenddämmerung an der Hütte.
Ja Freunde, das war mein Erlebnis Nordland gewesen, und es endete mit dem Verlust des Alten und damit, daß ich in der Hütte saß und den Kopf hängen ließ.

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