Sonntag, 28. Dezember 2008

An der Kasse im Selbstbedienungsladen

Supermarkt, Sonnabend, 27. Dezember, 11.32 Uhr.
Ich muss mich entscheiden, an welche Kasse ich den gefüllten Korb schiebe. Heute will ich alles anders machen, denn bisher gehöre ich zu den Kunden, die immer in der langsamsten Schlange auf den Platz am Laufband warten. Im Vorübergehen habe ich die Kassen eins und zwei ausgewählt. Dort sitzen Kassiererinnen, von denen ich weiß, dass sie schnell arbeiten. Kasse drei kommt nicht in Betracht. Die Kassiererin mit dem hochrotem Kopf und Schweißtröpfchen über der Oberlippe habe ich hier noch nie gesehen: Eine Aushilfe zwischen den Festtagen?

11.34 Uhr.
Ich habe auffallend unauffällig die Körbe und ihre Schieber an beiden Kassen gemustert. Vor dem Laufband an Kasse eins stehen zwei hochgefüllte Einkaufskörbe. Das muss noch nichts heißen, sage ich mir. Durch Kleinkram getarnt sind die zwei Getränkekisten kaum in dem vorderen Korb zu erkennen. Doch ich weiß, die Kisten sind schnell abgerechnet. Der Kunde ist schneller an der Kasse vorbei als ich mit meiner Halbfüllung. So wäge ich Korbinhalte darauf ab, wie flink die Kassiererin sie bezwingen kann. Kleinkram kostet viel Kassierzeit.

Doch ebenso ist jeder Kunde ein Risiko für schnellen Korbvorschub. Männer um die 50 mit gutem Einkommen können zur Korbbremse werden, wenn sie die Weinflaschen auf das Förderband stellen statt sie zu legen. Aber schließlich soll jeder Schlangesteher ruhig sehen, dass er sich 18 Euro-Wein leisten kann. Dass umfallende Weinflaschen große Schweinereien und damit Dauerstockungen verursachen können, ist dem Besserverdiener egal. Er hat die Kasse dann fast hinter sich. Hinzu kommt, dass Besserverdiener umständlich mit Karten zahlen und die Waren ungeschickt einpacken. Sie tun es eben nicht so oft.
Ältere Damen zahlen meist bar. Doch vorsichtig bin ich immer, wenn die Dame eine stärkere Brille trägt. Diese Frauen neigen dazu, das Kleingeld aus ihrem Portemonnaie auf den Kassentisch zu schütten: „Schauen Sie doch mal, ob sie was herausfinden.“ Ältere Ehepaare dagegen packen nach dem Kassieren wie gehetzt die Waren wieder in den Korb. Sie beschleunigen die Schlangen.

11.36 Uhr.
Ich will den alles entscheidenden Augenblick nicht länger hinauszögern. Heute stelle ich mich an die Schlange vor Kasse zwei, von der ich annehme, sie sei die langsamere. Am Schlangenende ein gefüllter Korb ohne Herrchenfrauchen. Als die Schlange vorrückt, umfahre ich den verwaisten Korb. Sekunden später spricht mich eine rundliche, kleine Frau an: "Haben Sie geschoben meine Wagen?"
Eine Polin? Wahrscheinlich.
Ich schaue sie an, hole langsam Luft und höre mich antworten: "Nein, habe nicht geschoben ihre Wagen."
Sie sagt nichts, ich auch nicht. Was sollte ich auch sagen? Ich habe über die Schlangengeschwindigkeit nachzudenken und bleibe bei meinem Entschluss: Ich deute alle Vorzeichen und bleibe in der langsameren Schlange. So werde ich schneller sein. Ich visiere die Dame auf gleicher Höhe in der Nachbarschlange an.

11.47 Uhr.
Mit meiner neuen Taktik mache ich das Rennen in Schlange zwei. Locker ziehe ich an der Frau an der Nebenkasse vorbei. Als ich erleichtert aus der Halle verschwinden kann, muss meine Vergleichs-Dame noch zwei Kunden abwarten.

Ich werde einen Wettkampf daraus machen. Finde ich willige Wettkämpfer, veranstalten wir ein Rennen in Super-Zeitlupe.

Sonntag, 21. Dezember 2008

Der Reiter

Mein Erster Besuch im Gefängnis! Am liebsten nie wieder! Doch bei Gelegenheit werde ich Uwe Holl erneut besuchen.

Ich staune, wie gelassen Holl ist. Nur die Bäume vor dem Fenster und das Rauschen der See fehlten ihm, gab er zu. Ich nickte nur und dachte: Ganz schön viel, was da fehlt, Holl.

Ich muss ihn wieder besuchen. Im August erzählte er mir, warum er seinen früheren Zugführer auf der Koserower Seebrücke fast totprügelte. Es war leicht zu erahnen, dass noch viel mehr Geschichten zu der Tat führten.

Holl erzählte Geschichten, von denen ich noch nicht einmal etwas ahnte. Er erzählte aus seinem Grenzerleben an der Berliner Mauer. Ich bekam mal eine Gänsehaut, weil es fast unerträglich war, woran Holl sich erinnerte, mal musste ich lachen. Es gibt nur wenige, die diesen Teil der DDR-Geschichte kennen.
Aus all den Gründen will ich ihn wieder besuchen. Vielleicht könnte ich ihm dann Meeresrauschen vom Diktiergerät vorspielen, aufgenommen vor seiner Wohnung in Koserow. Nur die Bäume, woher soll ich Bäume nehmen?

Heute erzähle ich zum Angewöhnen eine Geschichte nach, die mich um Lachen reizte, den einsitzenden Rentner Holl nicht.

Der Mauer-Ritt

Die Berliner Mauer war etwa 3,7 Meter hoch. Auf die Mauer waren Betonrohre montiert worden, etwa 50 bis 60 Zentimeter im Durchmesser. Es hatte nur einen Zweck, es sollte das Überwinden der Mauer erschweren. Doch mitunter wurde das Rohr missbraucht.

Ein Sonntag Vormittag im Frühling ging in die Mittagszeit über. Die Sonne stand hoch und blendete uns im Postenturm. Mitten im Erzählen über seinen Traktor, den nun Kollegen aus dere LPG fuhren - wer weiß, was sie mit der Karre anstellen - stockte mein Posten. Posten und Postenführer saßen sich stets schräg gegenüber, um den Postenbereich und einander beobachten zu können. Kaum etwas an der Grenze war schlimmer, als jemanden mit einer Kalaschnikow hinter sich zu haben. Mein Posten riss den Arm hoch, zeigte rechts an mir vorbei zum Kanten, so nannten wie die Mauer, und sagt leise: "Ich glaube, da guckt jemand über den Kanten." In dem Bereich gab es keinen Hochstand in Westberlin. Wie sollte da jemand über die Mauer ...? Im selben Augenblick war mir klar, was gerade passierte. Über die Sprechfunkanlage meldete ich dem Zugführer in der Zentrale: "Wolf, Wolf! Und hier ist der Iltis. Versuchter Grenzdurchbruch West-Ost. Eine männliche Person zu erkennen." Völlig idiotisch waren diese blöden Decknamen und genauso bekloppt war es, dass wir unsere Meldungen immer mit dem Wort "Und" begannen, eine Marotte, unausrottbar.
"Isser schon rüber?", kam die Rückfrage.
"Er guckt rüber. Entfernung etwa 120 Meter rechts vom Postenturm. Ich sehe Kopf und Oberkörper. Schätze, der steht auf einer Leiter."
"Die Streife ist schon unterwegs."

Ich schaute durchs Fernglas, mein Posten neben mir schaute sich fast die Augen aus dem Kopf.
Ich drehte mich kurz zu ihm und fuhr ihn an: "Umdrehen! Rechts und links und das Hinterland beobachten!" Ich schaute zu, wie der Mann hinter der Mauer verschwand. Wie im Kasperletheater, dachte ich.
Mein Posten trauerte nun nicht mehr seinem missbrauchten Traktor hinterher, sondern wollte wissen: "Warum darf ich nicht mitgucken?"
"Was ist, wenn der ganze Spaß nur ein Ablenkungsmanöver ist und 100 Meter entfernt Grenz-Ede gen Westen rauscht? Ich sag dir, was dann ist, dann rauschen wir nach Schwedt!"
Offiziell hießen sie Grenzverletzer, in unserem Regiment hieß jeder Grenzverletzer Ede.
"Is ja schon gut."
"Nein, ist es nicht. Gut ist es erst, wenn ich keine Uniform mehr anziehen muss. Bis dahin passt du auf wie ein Luchs."
"Sind wir heute nicht der Iltis."
"Noch ein Wort und du kannst was erleben. Gucken, Junge!"

Ich hatte geahnt, dass es noch nicht vorbei war. Der Mann tauchte wieder aus der Versenkung auf, sah, dass ich ihn durch das Fernglas beobachtete, winkte, grinste und schwang ein Bein auf das Mauerrohr. Scheiße, ein Mauerreiter, dachte ich.
Zu meinem Posten sagte ich: "So, jetzt wird es ernst. Er reitet auf der Mauer. Hoffentlich fällt er nicht zu uns rüber. Der verarscht uns, tut als wäre die Mauer sein Gaul."
Ich riss ein Fenster auf und brüllte den Mauerreiter an: "Hau ab! Verschwinde wieder! Los, zurück zu Mutti!"
Doch der Kerl tat als sei er taub. Ich riss die Leuchtpistole aus dem Futteral, drei Stern rot - in der Woche das Leuchtsignal für Grenzdurchbruch West-Ost - in den Lauf, zugeschnappt, aus dem Fenster gebeugt und schräg nach oben in Richtung des Mauerreiters geschossen. Weder der Knall noch das Zischen des aufsteigenden Geschosses beeindruckten ihn.

Er beugte sich Sekunden später in Richtung Westberliner Seite, dass ich dachte: Nun fällt er runter. Schön wärs gewesen! Als er sich aufrichtete, sah ich, wie er auf die Mauer gelangen konnte. Er zog eine Leiter zu sich herauf.

Ich schrie in die Sprechfunkanlage: "Wo bleibt die Streife? Er zieht eine Leiter hoch!"
"Die Streife ist gleich da."
Nun kippte er die Leiter in die Waagerechte. Ich brüllte zu ihm herüber: "Mach keinen Scheiß! Stell die Leiter zurück! Stell die Leiter zurück."
Zu meinem Posten: "Pass bloß auf! Wer weiß, für wen die Leiter gedacht ist?"
Wenn ich heute daran zurückdenke, wundere ich mich, dass ich keine Angst hatte; wahrscheinlich fehlte einfach die Zeit, um mich zu fürchten.

Der Kerl fühlte sich sicher. Er wusste, dass ich nicht schießen würde. Niemals über die Mauer hinweg in den Westen schießen, war ein Gesetz an der Grenze, denn nach Schießereien an der Grenze kamen Dutzende Westberliner Polizisten und suchten Gebäude nach Einschüssen ab. Fanden sie welche, gab es regelmäßig diplomatische Verwicklungen und anschließend Strafen für den Fehlschützen.

Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich konnte nur abwarten. Der Westberliner übernahm weiterhin die Initiative. Trotz meiner Schreierei kippte er die Leiter in unsere Richtung. Eine Sekunde später stand sie im Grenzgebiet, eine Einladung zum Abhauen.
Kann doch nicht sein, dass jetzt einer abhaut, am Sonntag Vormittag und der stellt ihm die Leiter an.

Auf dem Kolonnenweg kam die Streife im Trabant-Kübelwagen angeknattert. Meinem Posten befahl ich: "Du guckts nach links und Richtung Hinterland, ich nach rechts und hinten, klar?"
"Mann, ich krieg ja gar nichts mit."
"Wenn du jetzt nicht aufpasst, kriegst du nicht mit, wenn Grenzede angeflitzt kommt. Und dann bekommen wir beide gar nichts mehr mit, so schnell sind wir in Schwedt. Schluss jetzt mit dem Gemecker."
Und falls kein Grenzede kommt, weiß ich noch lange nicht, was der Mauerreiter in den Taschen hat. Ich legte die Kalaschnikow vor mich auf die Brüstung, einen Blick auf den Reiter, einen in Richtung Hinterland.

Jetzt war es an der Streife, die Reiterei zu beenden. Sie redeten auf den Reiter ein, der jedoch nun Anstalten machte, von der Mauer in den Osten abzusitzen. Jetzt brüllten der Streifenführer und ich um die Wette: "Bleib da, wo die bist!", und "Hau endlich ab, woher du gekommen bist! Zurück!"
Hastdunicht gesehen stand der Reiter auf der Leiter und damit auf DDR-Gebiet. Jetzt rückte die Streife vor und mir wurde mulmig: Was, wenn einer der beiden die Leiter bestellt hat? Ach, ist wohl Quatsch. Doch zugleich erinnerte ich mich an zahllose Pferde, die vor Apotheken ihren Mageninhalt zur allgemeinen Besichtigung freigegeben hatten. Bloß das nicht! und noch einmal, bloß das nicht.

Der Streifenführer stand nun am Fuß der Mauer, sein Posten hatte die Kalaschnikow im Anschlag, meine Waffe lag noch immer vor mir auf der Brüstung, meine rechte Hand auf dem Kolben der Waffe. Der Postenführer machte einen Satz zur Leiter, dann einen auf die zweite Sprosse, sprang hoch und riss den Reiter herunter. Die Streife griff den Reiter und schleppte ihn von der Mauer weg. Inzwischen raste ein zweiter Kübelwagen heran, später noch einer. Einer holte die Leiter von der Mauer.

Im selben Moment ertönte Protest hinter der Mauer: "Gebt uns die Leiter wieder. Der hat sie uns geklaut." Zwei Köpfe erschienen hinter dem Rohr auf der Mauer.
Nicht schon wieder.
Der Streifenführer schrie zurück: "Beweismaterial!"
Eine Zeitlang murrten die Bestohlenen und der Streifenführen schrie uns auf dem Postenturm zu: "Völlig besoffen!" und zeigte auf den einstigen Mauerreiter.
Dann wurde endlos gemessen und fotografiert. Meine einzige Sorge war nun, dass der Kontrollstreifen anständig geharkt wurde. Eine Fußspur darauf und ich hätte mich nicht mehr wiedergefunden. Fußspuren auf dem KS, naja, warum hieß er wohl Kontrollstreifen?

Nach unserem Dienst mussten wir die Geschichte zu Protokoll geben, weg war die schöne Freizeit - alles wegen eines betrunkenen Westberliners, der unbedingt auf der Mauer reiten wollte und dann nicht mehr West von Ost unterscheiden konnte.

Sonntag, 14. Dezember 2008

Die Aufzeichnungen des Uwe Holl, alias Martin W. (8)

Teil acht der Aufzeichnungen des Uwe Holl, der sich in seinem Text Martin W. nennt.

VI. Ich besteige einen Berg und stelle Fragen


Am Morgen bin ich allein in der Hütte. Der Alte war nicht zurückgekehrt, von Marsha war ein Zettel geblieben: Ich bin bald zurück. In mir das große Gefühlsdurcheinander: Ist dem Alten etwas passiert? Fand er seinen Morgenwind? Sucht er weiter? Und Marsha? Sie war bei mir geblieben aber es war nicht alles gewesen. Jetzt war auch sie verschwunden. Wohin? Sie war immer am Abend gekommen, diese Lichtspur und was sind Abende ohne Tage?

Dieses Tal, das wie meine Heimat geworden war, ist nun bedrückend eng. Ich gehe vor die Hütte, der Morgennebel hat sich aufgelöst. Es ist Tag, aber die Sonne ist noch nicht über die Berge gestiegen. Ich schaue hinauf und mir ist, als wollten die Berge auf mich stürzen. Ich muß hinauf auf die Berge, weg aus dem Tal. Ich glaube, wenn ich von dort das Tal überblicke, wird Ruhe in mir einkehren, und ich mache mich auf den Weg. Und ich steige hinauf, das Klettern wird mir immer schwerer und ich denke: Berge, das sind himmelwärtige Schweißabforderer.

Endlich strahlt mir die Sonne entgegen. Ich gehe über eine große Wiese, um das letzte Stück Weg zum Kamm zu steigen. Mein Herz schlägt wild, das Atmen fällt schwer und je größer die Anstrengung, desto weniger werden die Gedanken an den Alten und an Marsha.

Ich bin auf dem Kamm angelangt, setze mich ins Moos und belauere meine Gedanken. So wie ich mich erhole von der Anstrengung des Aufstiegs, kehren die sie in mich zurück.

Ich schaue hinab in das Tal, sehe tief unten die Hütte aber die Gedanken sind mir neu: Was hast du hier, in diesem Tal, an diesem Fluß verloren? Wolltest du nicht bis zur Mündung? Hattest du nicht vor, neue Menschen in Hülle und Fülle kennenzulernen? Du kennst die Frauen aus dem Laden. Glaubtest, den Alten und Marsha zu kennen und beide sind dir davongelaufen und brauchen dich nicht, wenn es ernst wird mit dem Leben. Gibt es überhaupt jemanden, der dich nötig hat zum Leben? Wen brauche ich? Sicher, die Umgebung, die Menschen hier sind nicht jene, die ich bisher kannte, aber bin ich anders geworden?

Und Marsha: Ich war der Meinung, sie würde ihre Gefühle vor mir verbergen, aber wenn, dann vielleicht nur, weil ich selbst zu den großen Liebesvergrabern gehöre. Es schwebt keine Fee hernieder, kein Zauberer erscheint, mir drei Wünsche zu erfüllen. Kein Eremit ist weit und breit zu sehen, mich mit weisen Ratschlägen zu füttern.

Hinabsteigen.


Nachbemerkungen:

Diese Aufzeichnungen schrieb Uwe Holl unter dem Pseudonyn Martin W.

Den Titel dieser Schrift wählte ich. Die Kapitelüberschriften stammen von Holl.

Uwe Holl hat jede Erklärung zu der Geschichte abgelehnt. Ich solle sie nehmen wie sie ist, meinte er.

Aber ich habe Paul B. gefunden. Von ihm erfuhr ich, dass er, Paul B., mit Marsha A. zusammenlebt. Sie haben im Landesinnern, bei Demmin, einen kleinen Landwirtschaftsbetrieb übernommen, Marsha A. erteilte mir keinerlei Auskünfte.

Sonntag, 7. Dezember 2008

Gedankenspiel

Habe in einem Gottesdienst den Pfarrer vom Lebendigen Gott sprechen hören.
Da fiel mir ein: Kann Gott auch tot sein? Wohl nicht. Warum dann das Reden vom Lebendigen Gott?
Und ich erinnerte mich an den Begriff real existierender Sozialismus.

Beides erweckt den Anschein, es müsse so sehr betont werden, weil so wenige daran glauben.

Was möchten Sie über Uwe Holl wissen?

In einer Woche lesen Sie das Ende der Geschichte von Uwe Holl, der sich lieber Martin B. nennt, vielleicht, um Abstand von seiner Vergangenheit zu gewinnen.

Inzwischen werde ich Uwe Holl im Stralsunder Gefängnis besuchen. So kurz vor Weihnachten kann das weder ihm noch mir schaden. Ich habe keine Ahnung, ob oder was Holl mit erzählen wird. Ich werde auch nichts mit ihm absprechen. Doch falls er keinen Anfang findet, werde ich ihm Fragen stellen.

Da fällt mir ein, dass Sie, die "Sturmfeld" kennen, einiges über Holl wissen, gern manches mehr über ihn wüssten. Stellen Sie Ihre Fragen im Kommentar; das können Sie auch anonym tun. Ich werde sehen, ob ich Ihre Fragen in mein Gespräch mit Holl einbauen kann.

Die Aufzeichnungen des Uwe Holl, alias Martin W. (7)

Teil sieben der Aufzeichnungen des Uwe Holl, der sich in seinem Text Martin W. nennt.

V. Abendwind III

Es klopfte an der Tür und "Herein" und "Guten Abend" und die Stube ist erfüllt vom Abendwind und ich hellwach und meine große Freude und ich höre mein Herz überall im Körper schlagen und: "Marsha, du kommst heute nicht durch das Fenster?"'
"Dies ist nicht das Badehaus."
"Ich freue mich, daß du gekommen bist."
"Dein Freund ist nicht da."
"Er ist noch unterwegs. Es kann fünf Minuten oder fünf Wochen dauern."
"Oder fünf Jahre? Du bist so konkret."
"Ich weiß nicht, wo er ist und wie lange er fortbleibt. Er ist nicht hier."

Wir aßen und tranken und sie erzählte, sie werde aus der Stadt weggehen. Die Arbeit im Hotel sei nicht gut, weil die Männer sich dort aufdringlich benehmen würden. Ich sagte, sie könne bei uns bleiben, der Alte wäre einverstanden, und ich fände es schön, wenn sie zu uns käme. "Ich werde es mir überlegen", sagt sie. Wir tranken vom Pflaumenwein des Alten, und ich pfiff die alten Lieder. Sie war ganz still.
"Ich möchte dich berühren", sage ich. Stille.
"Ich werde dich berühren." Keine Reaktion. Was sollte sie auch darauf antworten? Sollte sie darauf antworten? Ich fasse ihre Arme, ihre Schultern.

Ich hatte etwas zwischen Zuwendung und Ohrfeige erwartet aber nichts, nichts. Sie sitzt und ist wie Holz, wie geschliffenes Holz, sanfte Haut, warm und erstarrt. "So etwas habe ich überhaupt noch nicht erlebt! Du hättest mir wenigstens eine Ohrfeige verpassen können. Macht es dir keinen Spaß, wenn ich dich berühre?" Jeder Mensch braucht Zärtlichkeit und sie hatte sie sicher schon lange entbehren müssen. Warum dieses Nicht-Ablehnen und Nur-Dulden?

"Hast du Angst, ich falle über dich her, wenn du mir zeigst, daß dir meine Berührung Spaß macht?"
"Nein, davor habe ich keine Angst."
"Dann solltest du mich auch berühren."
Es ist mir im Leben immer so ergangen, daß ich Dinge, die sehr wichtig für mich waren, vergaß und daß mir winzige Gesten, der Klang eines Wortes, ein Blick über Jahrzehnte nicht in Vergessenheit gerieten. Noch heute kann ich Erlebnisse mit diesen Erinnerungen aus mir hervorholen. So geht es mir auch mit dieser Berührung: Ich sehe ihre Hand sich meinem Gesicht nähern, der Handrücken berührt meine Wange und ist doch eigentlich keine Berührung, nur ein Sekundenhauch.

"Kannst du das noch einmal machen?" Ja, sie kann es, und es ist wie die erste Berührung, zaghaft, die Spur eines Hauches. Und ich streichele sie und sie, diese Lichtspur dunklen, offenen Haares läßt es zu, tut nichts dafür, nichts dagegen, bleibt wie geschliffenes Holz.
"Irgendetwas an mir muß es doch geben, was du gut findest, sonst wärest du heute nicht hier."
"Du kannst schön erzählen, und die Lieder, die du singst, gefallen mir", antwortet sie. Verblüffung meinerseits: "Und das ist alles? Das kann doch nicht alles sein! Du bist zweimal zu mir ins Badehaus gestiegen, hattest genug Gelegenheit, mich zu betrachten. Hat mein Körper dich nicht interessiert?"
"Nein."
"Ich bin zwar kein Adonis aber auch kein Krüppel."
"Es ist so, er hat mich nicht interessiert."
"Und du. läßt dich von mir streicheln?"
"Ja, das ist schön."
"Meinst du nicht, daß das alles nicht recht zusammenpaßt? Wenn mir eine Frau gefällt und ich gefalle ihr, wird sein, was beide wollen und das, was einer nur will, wird nicht sein. Und es ist bestimmt ein Fehler, ein großer Fehler, mit seinen Gefühlen hinter dem Berg zu halten. Es gibt nur wenig Schlimmeres als zu bereuen, etwas nicht getan zu haben."

Ich streichele sie und sie berührt mich. Aus dem geschliffenen Holz werden zwei Arme, die mich halten und ein Mund voller Lust und ihr Haar duftet nach Wiesenkräutern.

Sonntag, 30. November 2008

Die Aufzeichnungen des Uwe Holl, alias Martin W. (6)

Teil sechs der Aufzeichnungen des Uwe Holl, der sich in seinem Text Martin W. nennt.

IV. Ich erlebe unfeierliche Feierlichkeiten, Abschnitt 2

Die Parade zeichnete sich durch Fahrzeuglärm aus, dazwischen heraushörbar zerhackte Klänge von Marschmusik und die versteinerten Gesichter der Soldaten. Sicher, es hätte anders ausgesehen, wenn die Soldaten fröhlich gelacht und Blumensträuße geschwenkt hätten. Die versteinerten Gesichter waren mir lieber, entsprachen sie doch dem, was die Soldaten lernten: das Waffenhandwerk! (Ein schlimmes Wort: Handwerk ist immer etwas im Kleinen arbeitendes, materielle Werte hervorbringendes. Waffenhandwerk müßte massenweise Zerstörung und grenzenlose Menschenschlächterei heißen.)

Der Demonstrationskrampf löste sich auf. Die Menschen strömten auseinander, um sich am Rande des Platzes wieder zusammenzufinden. Hier war Verkaufsstand an Verkaufsstand aufgebaut worden, und es wurden Waren verkauft, die alle einen gemeinsamen Namen trugen: Defizit. Nun war also das eigentliche Fest herangebrochen, und es bestand in einer, kleinen Kauforgie. Geduldig wie die Schafe, ging es mir wieder durch den Kopf. In langen Reihen, wie aufgefädelt, lauerten die Leute auf den festlichen Augenblick, etwas Defizitäres zu erkaufen.

An einem Stand gab es Unruhe; dort war es vorbei mit der Schafsgeduld. Eine Frau hatte die wart ende Menge ignoriert und war bis zum Stand vorgedrungen.
"Das, Ende ist dort hinten! Hier müssen alle warten, bis sie an der Reihe sind! Das ist ja eine Frechheit! Was nehmen Sie sich heraus?", tönte es hinter ihr. Und sie: "Ich muß gleich nach Haus! Im Stall die Kuh muß jeden Moment kalben."
"Was geht uns Ihre Kuh an? Milch, kaufen wir im Laden."
"Ich kann nicht lange anstehen. Unsere beiden Kühe werden heute kalben. Da muß ich doch im Stall sein!" rief sie nun. Aber bevor aus der Kuh eine kalbende Herde wurde, schoben sie zwei Männer zur Seite.

An einem anderen Stand eine ähnliche Szene: Eine junge Frau hatte sich an den Stand gedrängt und ''Ich habe einen Invalidenausweis. Ich darf nicht lange stehen," rief sie. Ein Mann rief zurück: "Zeigen Sie uns den Ausweis. Dann können Sie vorgehen." Und eine Frau fügte hinzu: "Besser noch, Sie legen sich ins Bett und schicken uns Ihren Mann. Der kann sich dann hinten anstellen."
"Widerlich ist das," sagte ich zum Alten. "Wie mögen diese Menschen sich verhalten, wenn das tägliche Brot oder das Wasser eine Weile nicht für alle ausreichen würden?"
"Wir wollen weitergehen," antwortete er. Dazu hätte er mich nicht auffordern zu brauchen; was wir erlebt hatten, war schon nicht mehr feierlich, wie man in unserem Land sagt.
Weiter, weiter, und seine Sinne waren wieder auf der Suche nach dem Morgenwind. Aus der Neugier auf seine große Liebe wurde mir ein Schmerz und der hieß: Was wird, wenn er ihr nicht begegnet; was wird, wenn er ihr begegnet.

Wir waren auf einem zweiten großen Platz angelangt. Hier fand statt, was die Einheimischen als Rummel bezeichneten: Es waren viele Karussells aufgebaut, grellfarbige Wagen und grellfarbige Kulissen. Zwischen den Karussells die Glücksbuden. Was verführte die Menschen, es als angenehm zu empfinden, in einen Wagen gepreßt im Kreis herumgedreht zu werden, dabei den donnernden, quietschenden, rasselnden Transportgeräuschen und der diese Geräusche übertönenden Musik und dem Staub des Platzes ausgeliefert zu sein? Was verführte die Menschen, ihr Glück herauszufordern, indem sie Zettel aus einem Kasten auswählten und enttäuschte Gesichter hatten, wenn auf dem auseinander gefalteten Zettel das Wort 'Niete' stand, statt einer Glücksnummer? War es ein Glück, einen Stoffbären, einen Baukasten oder einen Salzstreuer zu gewinnen?

Aber sie hatten, die Menschen, einen passenden Namen für diese Volksbelustigung gefunden: Rummel. Und das heißt in unserer Sprache nichts anderes als lärmender Betrieb oder Durcheinander. Wem kam es in einer der vielen Schießhallen in den Sinn, wie - nun, sagen wir - ungewöhnlich es ist, auf Blumen zu schießen, auch wenn es nur Papierblumen waren? So also feierte das Volk den Großen Volksfeiertag.

Weiter, weiter zum Stadtpark, auf dem Rasen, unter Kastanien, fanden wir Platz zum Ausruhen. Nicht weit von uns lagerte eine Gruppe junger Leute. Zwei von ihnen spielten Gitarre, die anderen lauschten den Klängen, und auch ich war schnell gefangen von den Harmonien. Schließlich schlief ich ein. Als ich erwachte, hörte ich keine Gitarrenklänge mehr. Einige Zivilisten mit grünen Armbinden und dem Landessymbol darauf waren damit beschäftigt, die Jugendlichen vom Rasen zu treiben. Zu mir kamen ebenfalls zwei der Männer: "Verschwinden Sie hier endlich, Sie Rasenschänder, oder sollen wir erst die Polizei holen?" Und in diesem Augenblick bemerkte ich, daß der Alte verschwunden
war.

Ich ging zum Parkweg. Auf zwei Bänken hatten sich die Jugendlichen niedergelassen. Als ich in ihre Nähe kam, riefen sie mich zu sich.
"Der Opa der vorhin bei dir war, läßt bestellen, er sei schon losgegangen. Er sucht irgend etwas, und du kannst ihm dabei nicht helfen. Es kann länger dauern, sagte er, und du sollst schon vorausgehen. Den Weg würdest du kennen. Komische Sache, nicht?''
"Nicht komische, traurige Sache." Er läßt mich hier allein und geht seiner Wege. Wer weiß, was er vorhat? Falls es doch zu einer Begegnung mit seinem Morgenwind kam, sollte ich nicht dabei sein. Das war verständlich. Aber er hatte sich,während ich schlief, auf den Weg gemacht.

Was sollte das Grübeln nützen? Nun, wo ich ohne Führer war, machte ich mich bald auf den Rückweg und war in der Abenddämmerung an der Hütte.
Ja Freunde, das war mein Erlebnis Nordland gewesen, und es endete mit dem Verlust des Alten und damit, daß ich in der Hütte saß und den Kopf hängen ließ.

Sonntag, 23. November 2008

Die Aufzeichnungen des Uwe Holl, alias Martin W. (5)

Teil 5 der Aufzeichnungen des Uwe Holl, der sich in seinem Text Martin W. nennt.

IV. Ich erlebe unfeierliche Feierlichkeiten

Wir hatten den Grenzfluß überquert und näherten uns in weitem Bogen von Norden der Grenzstadt. Es waren an diesem Morgen viele Menschen unterwegs: Jene, die feiern wollten, um so zu Genüssen aller Art zu gelangen, jene, die die Festtage nutzen wollten, auf dem Markt Waren zu verkaufen, um so in den Genuß zusätzlichen Geldes zu gelangen. Ja, Freunde, so unterschiedlich kann man sich Feiertagsgenüsse herbeischaffen.

Die Häuser im Norden der Stadt waren sehr grau. Die Menschen, die darinnen wohnten, waren wohl mit dem Grau nicht zufrieden, denn sie strichen die Fensterrahmen, grellweiß, um etwas Helles in des graue Grau zu bringen. Dadurch steigerte sich das Grau der Fassaden noch. Daß ihnen das nicht zuwider war!? Sahen sie doch, wenn sie aus ihren weißen Fenstern blickten an den Häusern gegenüber, was sie angerichtet hatten.

Im Gegensatz zum Nordteil der Stadt war das Zentrum vielfarbig hergerichtet worden. Rot, grün und goldfarben war alles, behängt mit Fahnen, Transparenten und riesigen Luftballons. Größer konnte der Kontrast zum grau-weißen Norden der Stadt nicht sein. Keine schlichte Feierlichkeit, sondern aufgesetzte Fröhlichkeit, kam es mir in den Sinn. Und während ich mit meinen Betrachtungen beschäftigt war, hetzte der Alte seine Blicke auf die Menschen. Wir hatten das Zentrum schon fast durchquert, als er sagte: "Dort ist ein Cafe, in dem wir etwas essen können."

Kurz nachdem wir sitzen, nimmt am Nebentisch ein junger Mann Platz. Er bestellt Eis mit Kirschen. Die Kellnerin vergißt den Teller für die Kirschkerne. Während der Mann die Kirschen ißt, bemerkt er das Versehen. Offensichtlich traut er sich nicht, um einen Teller zu bitten und behält die Kerne im Mund. Nun bestellt auch das Pärchen an seinem Tisch. Das ist eine Gelegenheit, um den Teller zu bitten. Jedoch der Mund ist voll. Es beginnt ihn zu würgen. Doch nun schlägt das Würgen um in ein Lachen. Er lacht laut los, die Kerne fliegen aus seinem sperrangelweit geöffneten Mund über den Tisch, auf seinen Gegenüber. Dadurch wird sein Lachen noch verstärkt zu einem brüllenden Lachen. Sein über und über bekernter Gegenüber wird rot vor Wut. Das Lachen erstirbt, und im gleichen Augenblick beginnt der Bekernte zu lachen. Er hatte erkannt, warum es so kommen mußte. Wir sind mit dem Lachen davongekommen, und wieder auf der Straße, laufen wir - immer noch amüsiert - weiter bis zum Ende des Stadtzentrums.

Der Alte: "Es ist doch wieder und wieder schwer vorauszusagen, wie sich Menschen verhalten, geraten sie in ungewöhnliche Lagen. Wahrscheinlich werden sie inzwischen gemeinsam einige Schnäpse trinken, und der Befleckte wird dem jungen Mann von seinen Kriegserlebnissen erzählen oder von seiner ersten Freundin, ungefähr so: Siehst du Junge, genau hier, wo jetzt der Kirschfleck ist, traf mich damals ein Granatsplitter. Und das kam so... Oder: Meine erste Freundin war eigentlich meine nullte, denn ich habe sie nie angefaßt. Wir trafen uns manchmal an einem Baum im Park; sie hockte unten im Gras, ich kletterte in den Baum, und wir erzählten über dies und das aus einer Entfernung von vier oder fünf Metern. Ich war gräßlich schüchtern.

Er wird den Jungen sicher kaum au Wort kommen lassen. Aber ist so der Ausgang eines kleinen Malheurs nicht gut? Es hätte auch sein können, daß der Befleckte dem Jungen einige Tage später die Rechnung für die Reinigung oder für ein neues Hemd schickt."

"Es hätte auch so zugehen können", ergänzte ich, "daß der schüchterne junge Mann vor lauter Schüchternheit und Freude über den glücklichen Ausgang seiner Kirschkernspuckerei losgeplaudert hätte, ungefähr so: Ich habe schon so lange keine Kirschen mehr gegessen, und ich habe mich so gefreut, endlich wieder welche zu bekommen. Es ist doch schön, daß an Feiertagen viele seltene Waren unters Volk kommen. Da merkt man so richtig, daß Feiertag ist."

"Und der Besudelte wird antworten: Ja, ja, saure Wochen, frohe Feste. So muß es sein, sonst macht das Feiern keinen Spaß mehr. Und das ist dann wieder so typisch nordisch." Er sprach aber schon wieder ganz nebenher. Ihr wißt ja, Freunde, er war auf der Suche.

Wir gingen auf anderen Straßen zurück zum zentralen Festplatz. Treu und geduldig wie Schafe standen auf dem Platz einige tausend Menschen und lauschten ergeben der Ansprache ihres lokalen Oberhauptes. Es sprach von dem wünschenswerten, friedlichen 'Nebeneinander mit den Nachbarnationen' und ich dachte: nicht friedliches Nebeneinander sondern Friedhofsstille zwischen den Nationen meint er. Als er von den 'Gefahren feindlicher Infiltration' sprach, mußten der Alte und ich schmunzeln, obwohl es uns eine Beleidigung hätte sein müssen. All seine Worte rochen nach Abkapselung, nach Isolation und es war ein schlechter Geruch. Später lobte der Redner den 'dynamischen Aufschwung der Wirtschaft' im Lande und es wurde unruhig in der Menge. (Ganz nebenbei, Freunde: Wie kann es einen Aufschwung geben ohne innere Kraft, ohne Bewegung; denn das 'dynamisch' ist der Physik entlehnt. Bei Aufschwung denke ich immer an den Sport; dort hat das Wort seine eigentliche Berechtigung. Also ist der 'dynamische Aufschwung' eine unglauwürdige Konstruktion im Zusammenhang mit dem Wort Wirtschaft!) Die Unruhe zeigte aber keine Zustimmung zu des Redners Worten an. Sie schwappte nicht bis zum Redner hinüber, oder dieser wollte oder konnte nicht den Inhalt seines Manuskriptes verlassen, sonst hätte er es der Masse heute erlassen, 'alles zu tun für den Frieden'. Ich fragte den Alten: "Was meint er mit 'alles'?" "Niemand weiß, was 'alles' ist. Hier wird ja allerhand getan für den Frieden. Zum Beispiel wird Rad gefahren für den Frieden. Ich kann mir vorstellen, genauso könnte man Bockwurst essen für den Frieden und - Scherz beiseite - Krieg führen, alles für den Frieden. Und auch das wäre lange noch nicht 'alles'. Man müßte den Redner einmal befragen!"

"Ich glaube, das werden wir uns lieber verkneifen." Nun schob sich die Zuschauerkulisse zurück, und es entstand zwischen ihnen and der Rednertribüne eine freie Fläche. "Die Parade "beginnt", sagte der Alte. "Alles wie seit Jahrzehnten. Sowohl das Volk als auch die Tribünen - die Menschen müssen das doch langsam satt bekommen, die alljährlich sich gleichenden Riten."

Sonntag, 16. November 2008

Die Aufzeichnungen des Uwe Holl, alias Martin W. (4)

Teil 4 der Aufzeichnungen des Uwe Holl, der sich in seinem Text Martin W. nennt.

III. Abendwind 2

Zwei Tage später:

Es wird Abend. Mit dem Abend steigt kühler Dunst aus den Wiesen. Der Alte und ich hatten Holz für den Winter gefällt, hatten kaum ein Wort miteinander gewechselt. Machten ihn die Gedanken an das Nordland wortkarg?

Ich sitze in der Badewanne, ein Glas Tee auf dem Hocker neben der Wanne, der Zigarettenrauch vom Selbstangebauten des Alten brennt auf der Zunge. War dem Alten die Arbeit zu schwer geworden? Seine Hände! Warum hatte ich heute nicht auf seine Hände gesehen?! Sie hätten es mir verraten. War ich schon wieder so sehr mit mir beschäftigt?

Ich muß mir gleich seine Hände anschauen. Ihr wißt doch, er hat feingliedrige Hände und solche Hände sprechen, wenn wir nur richtig hinsehen.

Die Abendkühle schleicht sich nun auch in das Badehäuschen und lockt aus dem Badewasser Dampf empor. Merkwürdig ist der Alte: Er kann sein Gesicht stumm machen, und es ist immer ein freundliches Gesicht. Mir dagegen kann jeder, der will, aus dem Gesicht meine Gedanken ablesen. Das meine ich, was meinen andere Menschen? Ich hatte niemanden dazu befragt. Ich werde mit dem Alten darüber sprechen.

Nein, nicht schon wieder! Und doch, das Badehausfenster knarrt. Nein, ich werde mich nicht umdrehen. Ich weiß doch, wie der Abendwind aussieht: Eine Lichtspur duftenden offenen Haares.
"Du bist es, mit den dunklen, offenen Haaren."
"Darf ich hereinkommen?"
"Bitte, aber durch die Tür."
"Laß mich durchs Fenster steigen. Vorgestern mußte ich es, heute würde es mir Spaß machen."
"Also gut, komm herein, reiche mir den Tee und setze dich auf den Hocker. Und dann erklärst du mir, was das alles zu bedeuten hat."
"Vorgestern hast du gesungen, als ich kam. Das klang so freundlich. Ich fühlte mich richtig eingeladen. Heute bist du brummig."

"Ich finde dich ganz schon frech. Du steigst zum zweiten Mal zu mir ins Badehaus und ich soll vor lauter Freude darüber Hymnen singen? Warum machst du das alles?"
Sie hat ja Bunte Augen, große bunte Augen. Sie schaut auf mein Teeglas, keine Antwort. "Möchtest du rauchen? Ja? Aber Vorsicht, es ist Selbstangebauter. Hier! Trink einen Schluck Tee."
"Was ist das für ein Tee?"
"Schwarzer und Pfefferminztee gemischt, nach dem Rezept eines alten Mannes, der wissen wird, was den Durst löscht."
"Er schmeckt nicht besonders gut, der Tee."
"Dir schmeckt er nicht, mir dagegen schmeckt er gut. Vielleicht verrätst du mir wenigstens deinen Namen."
"Ich bin Marsha. Und du?"
"Ich heiße Martin. Dein Name ist hier selten. Ich habe dich noch nie im Dorf gesehen. Also, wie ist das nun mit dir?"
Ja, wie ist das nun mit dem Abendwind? Wo kommt sie her, wohin will sie, diese Lichtspur?

"Hier ist mein Name bestimmt selten. Ich komme aus dem Nordland und bin erst seit vorgestern hier. Ich kam an diesem Haus vorbei, hörte dich singen und dachte, wer so singt, bei dem kann man sich ausruhen. Als ich zur Tür herein wollte, sah ich einen alten Mann kommen. Ich lief hinter das Haus, um nicht gesehen zu werden und stieg durchs Badehausfenster. So war das."
"Aus dem Nordland also. Und du bist einfach so gekommen. Könnte es nicht sein, daß es für dein Kommen einen Grund gibt? Übrigens, der Alte Mann ist mein bester Freund und es gibt keinen Grund, vor ihm davonzulaufen, so ist das."
"Sei nicht wieder brummig."

"Deine Erklärung: Bist du sicher, das war alles, was du mir zu erzählen hast?"
"Ich bin mir nicht sicher. Ich erzähle nicht gern von mir.
Ach, dieser Abendwind! Marsha, Marsha, ein Badehausfenster zu durchsteigen, war dir ein Leichtes. Aber mir von dir zu erzählen, war dir eine zu hohe Hürde. Sie wird ihre Gründe haben, so schweigsam zu sein, und lieber sollte sie weiter so schweigsam bleiben, als mich, belügen. Also erzählte ich von mir, von den Streichen als Junge, aus der Schulzeit. Ich erzählte aus der Studentenzeit (Was macht ein Student, wenn er nicht studiert?).
Ich will euch jetzt nicht mit meinem Leben behelligen, aber vielleicht läßt sich aus den Erinnerungen die eine oder andere Geschichte hervorschreiben, wenn ich mit dieser fertig bin.

"Du kannst schön erzählen. Es macht Spaß, dir zuzuhören. Erzähle mir noch eine Geschichte." "Es ist spät geworden, wir werden ins Haus gehen, zum Alten. Das viele Sprechen hat mich hungrig gemacht."
"Ich werde gehen", sagte sie.
"Wo willst du bleiben in der Nacht? Wo warst du in den vergangenen Nächten?"
"Ich habe Arbeit im Hotel in der Stadt gefunden. Dort wohne ich auch."
"Du kannst bei uns bleiben, wenn du willst."
"Ich werde gehen."
"Also willst du nicht hier bleiben?"
"Ich werde gehen. Danke für die Geschichten."

Ihr Gesicht war über mir,und ich spürte ihre Lippen in meinem Gesicht. Dann ging sie - ich denke, ihr wißt schon, wohin - natürlich zum Badehausfenster, und ich machte mir nicht die Mühe, ihr zu erklären, daß das Badehaus mit einer richtigen Tür versehen ist.

Der Alte saß auf der Bank vor der Hütte.

"Seltsam, seltsam! Der Abendwind gelangt nur bis zum Badehaus. Die wenigen Schritte bis hierher können doch nicht zu viel sein."
"Der Abendwind heißtMarsha und war nicht zu bewegen, ins Haus zu kommen. Sie ist, warum, weiß ich nicht, aus dem Nordland gekommen."
"Aus dem Nordland also", waren die letzten Worte, die er heute abend sagte.

Diese wenigen Worte hatten seine große Sehnsucht hervorbrechen lassen. Trotz der schweren Arbeit am Tage, trotz der schweren Gedankenlast, dieser Bürde, die zu einem guten Teil ich ihm aufgeschultert hatte, sah ich nur ein leichtes Zittern seiner Hände. Sein Gesicht war ernst. Es brach auch kein Wort aus ihm hervor, als mir beim Abwaschen kurz nacheinander zwei Teller in Scherben gingen. Merkt ihr, Freunde, auch ich hatte nicht meinen ruhigsten Abend, und daß diese Unruhe mit dem Abendwind und dem inneren Schlachtfeld des Alten zu tun hatte, brauche ich eigentlich nicht aufzuschreiben.

Ich hatte mir vorgenommen, heute abend wirst du ihm helfen, die Mühen des Tages zu vergessen, und nun war ich bei ihm und konnte nichts ausrichten. Es war einfach, mir anzusehen, daß Marsha Abendwind in mir eine schwer zu bändigende Unruhe hinterlassen hatte, und ich glaubte, der Alte könne ihre Lippen auf meiner Wange sehen. Und so meinte auch der Alte, mich mit meinen Gedanken allein lassen zu müssen. Wir beschwiegen uns und glaubten, auf diese Weise jeder seiner Erregung Herr zu werden.

Gemach, Freunde, gemach. Wir werden bald sehen, wer Sieger wurde in diesem abendlichen Kampf, die große Sehnsucht oder die Vernunft.

Ich hatte immer geglaubt, daß mir bereits im Mutterleib zwei linke Hände herangewachsen waren, und ich hatte deshalb eine Scheu vor Arbeiten, die von meinen Händen Fingerfertigkeiten verlangten. Hier erst, beim Alten, lernte ich, daß meine Hände zu mehr taugen, als zum Bleistifthalten. Ich hatte das Ausmisten im Kuhstall gelernt, konnte Kühe melken; ich konnte mit Säge und Beil umgehen. Und ich hatte in den vergangenen Tagen das Mähen mit der Sense gelernt; wir ernteten.

"Wenn du so weitermachst, kannst du im nächsten Jahr selbst einen kleinen Hof übernehmen. In letzter Zeit sind einige Wirtschaften frei geworden und Acker liegt brach. Die Grenze treibt viele Leute aus dieser Gegend."
''Mir scheint", antwortete ich,"mit den Händen bin ich jetzt flinker als mit dem Reden."
"Was meinst du?"
"Ich meine, meiner Hände Arbeit überzeugte dich, mir ausreichende bäurische Fähigkeiten zu bescheinigen. Aber ich konnte dich nicht überzeugen, mit mir ins Nordland zu gehen, du weißt, der Große Volksfeiertag."
"Ich werde ins Nordland gehen, und ich nehme dich mit. Glaube aber nicht, daß ich es deinetwegen tue. Ich habe endlich erfahren - deshalb war ich häufig in der Stadt - daß sie schon lange wieder in der Grenzstadt lebt. Nun will ich hinüber, sie suchen."
"Deine Entscheidung hat nichts mit mir zu tun?"
"Nichts."
"Und wie ist dir jetzt zumute?"
"Wir müssen zusehen, daß wir mit der Ernte fertig werden. Unser Erntefest werden wir dann im Nordland feiern. Werden wir aber erwischt, haben wir vorläufig keinen Grund zum Feiern. Also an die Arbeit!"

Trotz der Einschränkung waren seine Worte voller Vorfreude. Die Angst, seinem Morgenwind zu begegnen, schien wie in dieser Vorfreude aufgelöst. Nun, Freunde, ihr fragt nicht, wie mir zumute war? Ob ihr es wissen wollt oder nicht, ich schreibe es euch auf: In mir polterten die Gefühle durcheinander, wie die Steine im Fluss es taten. Endlich war es mir möglich, ein wenig zu erleben, was es mit diesem Nordland auf sich hatte. Aber schwer wog der Gedanke, was wird mit dem Alten werden, finden wir seine große Liebe nicht.

Sei es, wie es sei, ihr wißt jetzt, daß gerade eine große Sehnsucht über die Vernunft gesiegt hatte. Oh, ihr Vernünftigen unter meinen Freunden, warum wiegt ihr eure Häupter über so viel Unvernunft?
Was ist denn die Vernunft? Ist sie etwas anderes, als sich selbst und damit stets auch anderen Menschen Zwang anzutun? Und ist dieses Zwang-Antun nicht so weit verbreitet in der zivilisierten Welt, daß es wie alles und jedes einen Namen bekam, der in unserer Sprache Vernunft ist? Verhöhnt diese Vernunft nicht unseren Geist und unsere Sinne? Sie macht aus Menschen Märtyrer; ja Freunde, auch so werden Märtyrer gemacht. Ich habe noch nie einen Menschen sterben sehen, aber ich glaube, diese Märtyrer werden zu jenen gehören, die weinend sterben. Wars der Alte, der so sprach? War ich es? Aber was tut das zur Sache?

Montag, 10. November 2008

Die Aufzeichnungen des Uwe Holl, alias Martin W. (3)

Teil 3 der Aufzeichnungen des Uwe Holl, der sich in seinem Text Martin W. nennt.

III. Abendwind 1

Zeit war vergangen, Wochen? Ich kann es nicht mehr sagen. Seit dem Ende der Zwistigkeiten mit den Frauen aus dem Dorf war Ruhe eingekehrt, Ruhe, die ich gesucht hatte, zum Nachdenken, zum Erinnern. Richtig, ich machte keine Pläne, meinte, alles was mir not tat zu haben. Niemanden vermißte ich von jenen, die ich vor meiner Flucht kannte.

Es war heiß geworden. Ich hatte die am Morgen gefangenen Fische zum Braten vorbereitet. Das Braten wollte ich auch heute dem Alten überlassen. Ich saß in der Badewanne und pfiff die alten Lieder. Seltsam, die Menschen, mit denen ich Jahre und Jahre zu tun hatte, waren mir fremd geworden; einige Namen fielen mir schon nicht mehr ein, und ich hatte Mühe, mich an die Gesichter dieser Menschen zu erinnern. Die Musik dagegen kam von allein und es waren doch die alten Lieder. Ich hörte die Akkorde, Textfetzen waren da, und ich war wütend darüber, daß ich nicht gleichzeitig singen und pfeifen konnte.

Draußen im Fluss rumorten die Steine auf dem Weg, die Welt kennenzulernen. Und sie büßten für ihre Neugier auf die große Welt mit ihrem steinernen Leben.
"Überall, wo ich war, ließ ich ein Stück meines Lebens zurück; auch ein Grund, seßhaft zu werden. Hier bewahre ich den Rest meines Lebens, er geht mir nicht verloren.“ Hatte nicht so der Alte gesprochen? Und weiter gesagt: „Jeden vergangenen Tag habe ich so um mich, und mein Leben wird dadurch jeden Tag um einen Tag lebendiger?" Das waren mir nun keine mystischen Worte mehr. Ich hatte bisher nur nicht in der Badewanne gesessen, alte Lieder gepfiffen, die Steine poltern hören und dabei an die Worte des Alten gedacht.

Das ist doch noch nicht der Abendwind, denke ich, als ich hinter mir das Fenster des kleinen Badehauses knarren höre, und: Da ist jemand, und ich drehe mich um, und höre mich sagen: "Ich habe die Tür doch nicht abgeschlossen. Wie soll das gehen ohne Schloß und Schlüssel? Warum kommst du durch das Badehausfenster?"
"Psst, sing weiter, bitte.“
„Ich würde sagen, ich habe gepfiffen.“
"Du hast gesungen. Bitte, pfeif oder sing, als sei ich nicht hier.“

Wieder war sie da, die Vergangenheit mit ihren Sprüchen: Du sollst einer Frau nichts abschlagen; es könnte das letzte Mal sein, daß sie dich um etwas bittet. Ich wüßte nicht zu sagen, was ich damals pfiff, oder sang ich? Ich spürte diese Frau hinter mir stehen und fragte mich nur: Warum steigt eine Frau zu mir durchs Badehausfenster?
Und sie: "Du kennst schöne Lieder, die habe ich noch nie gehört. Entschuldige, ich wollte dir keinen Schreck einjagen." Wieder durch das Fenster, als hätte das Haus keine Tür! Nur noch die Lichtspur Ihrer dunklen, offenen Haare und alles war wie vor zwei Minuten und nichts war mehr wie vor zwei Minuten.
Warum steigt eine fremde Frau zu einem Mann durchs Badehausfenster, als wäre sie der Abendwind? Ist der Abendwind eine Frau und lügt uns nur unsere Sprache einen Herrn Abendwind vor? Glaubt mir jetzt schon, daß der Abendwind eine Frau Abendwind ist. Wer's nicht glaubt, muß weiterlesen; wer's so weiß wie ich, für den ist alles gesagt.

"Du ißt heute nicht richtig," sagte der Alte.
"Das macht der Abendwind! Ich muß immer denken, daß der Abendwind eine Frau sein könnte. Was meinst du?"
"So wie der Morgenwind eine Frau ist, muß es auch der Abendwind sein."
"Was für eine Frau ist der Morgenwind?"
"Warum fragst du nicht: was für eine Frau ist der Abendwind?"
"Wenn er eine Frau ist, weiß ich wie sie ist. Und wie ist das nun mit der Dame Morgenwind?"
"Der Morgenwind ist keine Dame. Er ist eine blonde Frau mit üppigem Leib und üppigen Lippen, grau-grünen Augen, mit einer hell-klaren Stimme. Wenn sie lacht, sind ihre Augen nicht zu sehen, sie wirft dabei den Kopf ein wenig in den Nacken und ihr Hals ist dann sehr schön. Man verliebt sich in sie und es gibt keine Rettung.“
So muß sie gewesen sein, die Frau, die ihn an diesen Fluss fesselt, die nach so langen Jahren seine einzige Sehnsucht ist, die Frau, von der er nie wieder hörte und die wiederzusehen seine große Angst ist.
"Sagst du mir jetzt, was für eine Frau der Abendwind ist?"
"Der Abendwind ist eine Lichtspur dunklen Haares und kann durch ein Badehausfenster steigen. Ihre Stimme ist sanft und dunkel und sie hört gern alte Lieder."
"Dir ist wohl heute die Vroni vom Kollak über den Weg gelaufen?"
"Vroni ist mir schon oft über den Weg gelaufen. Du solltest aber wissen, daß sie dunkelrote Haare hat. Aber für ein Mädchen, das ich nicht mag, guckt sie mir zu heißhungrig durch die Männerwelt. Sie habe ich heute nicht gesehen. Aber mal etwas anderes. Am nächsten Wochenende ist im Nordland der Große Volksfeiertag. Sollten wir nicht versuchen, ..."
Warum redete ich so? Wollte ich der große Verlocker sein? Dröhnte Mitleid in mir? Mußte ich mich als der große Entzauberer geben? Wollte ich an anderer Leute Glück herumschmieden? Oder wollte ich meine Neugier um eine geheimnisvolle Frau besänftigen?
"... ein wenig Nordluft schnuppern?“
„Nein, ohne mich und ohne dich."
"Es kann nicht viel passieren: Die Wachen am Fluss werden ihre Alkoholration im Leib haben und guter Dinge sein. Eine Kleinigkeit für dich und für mich auch, wenn du dabei bist."
"Wir werden uns schlafen legen. Du hast zuviel Abendwind abbekommen, wenn er auch nicht Vroni hieß. Wie hieß der Abendwind eigentlich?"
"Er wird noch einen Namen bekommen. Gute Nacht."

Er hatte nicht abgelehnt, hatte seine Entscheidung nur vertagt. Mein Gott, Junge, mische dich nicht in andere Leben ein! Aber war der Alte denn glücklich mit seiner Sehnsucht, seinen Träumen?
Alles, was er tat, tat er bedächtig. War das seine Art, seine ständige innere Unruhe zu bekämpfen? Oder bildete ich mir sie nur ein?
Alles war möglich, so wie immer alles möglich ist, wenn man auch nicht alles ertragen kann. Daß man nicht alles ertragen kann, ist wohl der Grund, daß man nicht alles erlebt.

Donnerstag, 30. Oktober 2008

Die Aufzeichnungen des Uwe Holl, alias Martin W. (2)

Teil 2 der Aufzeichnungen des Uwe Holl, der sich in seinem Text Martin W. nennt.

GRENZGEBIET

Die Aufzeichnungen des Martin W.

II. Ich ermutige Dorffrauen und ernte dafür eine kleine Feindschaft, die sich in Sympathie verwandelt

Am nächsten Tag sagte der Alte: „Ich werde heute in die Stadt gehen, habe dort Dinge zu regeln. Möchtest du mitkommen?“
„Nein, ich gehe lieber zum Fluss, angeln.“
„Dann kannst du am Dorfladen vorbeigehen, wir brauchen jetzt mehr Lebensmittel als ich bisher allein.“
Er schnallte seinen Rucksack über, nahm seinen Stock und ging den Weg nach Südwesten, weg vom Fluss. Also verlässt er doch den Fluss, der ihn hier festhält. Es werden wichtige Dinge sein, die er zu regeln hat.
Auf dem Dorfplatz lungerten zwei Hunde im Schatten der Treppe herum, die zum Laden hinaufführte. Am Vormittag hatten sich ihnen zwei schwarze Kühe zugesellt und es war eine seltene animalische Eintracht zwischen ihnen, von der brennenden Sonne aufgezwungen.
Aus dem Laden tönte eine schrille Frauenstimme: „Und das Eine will ich Ihnen sagen, Frau Herbst, mit der Vroni nimmt es noch 'mal ein schreckliches Ende. Diese Prügelei am Samstag beim Tanz soll sie ja auch angestiftet haben. So etwas hat es hier noch nie gegeben, dass Eine allen Jungen schöne Augen macht. Mein Vater hätte mich balbtot geprügelt.“
Ob das der Grund dafür war, dass diese keifende Alte in ihrer Jugend stets die Augen niederschlug, wenn ein Junge in ihre Nähe kam? Oder hatte sie den Jungen schöne Augen gemacht und jene hatten darin keinen Anlass gesehen, sich zu prügeln. Und nun war ein Mädchen herangewachsen, das schließlich die Aufmerksamkeit des ganzen Dorfes erregte. Und der Neid kannte keine Grenzen; eine alte Geschichte.

Hinein in den Laden und ‚Eine wie die andere rund und bunt’, war mein erster Gedanke. Nur die Verkäuferin: lang, dünn, magere Wangen und ein blauer Kittel.
„Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht“, sagte die Verkäuferin, wohl um die schrille Dicke zur Preisgabe von Einzelheiten zu bewegen. Drei Dicke und die Verkäuferin und plötzlich kein Wort mehr. Nur das Schilpen von Spatzen war zu hören, die auf dem Brotregal hockten, als ob sie die Unterhaltung der Frauen fortsetzen wollten.
„Und die Eier, die ich gestern kaufte, waren ja sehr frisch. Und das Eigelb war so gelb“, sagte eine der Frauen. Welch ein geheimnisvolles Geheimnis sie doch zu bewahren glaubten, als gäbe es kein offeneres als Dorftrinentratsch.
„Ja, und das Eiweiß war so weiß“, konnte ich mich nicht mehr bezähmen. So viel hochnäsige Verachtung, so viel Beleidigtsein und oh, erste Rache-Fünkchen blitzten mir aus acht Augen entgegen.
„Sie können Ihre Wünsche äußern, wenn Sie an der Reihe sind.“ Den dicken Frauen zugewandt, sagte die Verkäuferin: „So jung und so frech. Je weiter ihr Weg hierher ist, desto mehr glauben sie, sich gegenüber der heimischen Bevölkerung herausnehmen zu können.“
Siehe, man kannte mich nach wenigen Tagen.
Wann kennt ein Mensch einen anderen? Vermeint ihr nicht, einen Menschen so ganz und gar genau zu kennen und kommt dann nicht der Tag, an dem es euch ebenso ungewollt über die Zunge kommt: ‚Nein, das hätte ich nie gedacht, dass er so etwas macht.’ Nie werden wir einen Menschen bis zum Grunde kennen, kennen wir uns doch selbst bisweilen nicht wieder.
Genau wie ich mich nicht wiedererkannte. Was hatte ich mich in das Gespräch der Dorfposaunen einzumischen, dazu noch so herausfordernd? Also Wiedergutmachung: „Selbstverständlich, meine liebe Frau Herbst, kein Wort von mir, bis ich an der Reihe bin.“
Zu dick aufgetragen, denn: „Ich bin hier die Verkäuferin und nicht Ihre liebe Frau Herbst, merken Sie sich das. Und noch etwas, es gibt noch andere Läden, wo Sie einkaufen können.“
Nein, kein Wort mehr, bis die drei Dicken eingekauft haben. Aber sie haben schon und die spatzen-durchschilpte Stille wurde nun auf beiden Seiten peinlich.
„Also, was wünschen Sie?“ Und die Waren landeten auf dem Tisch, als seien sie Bleiklumpen. Anders hätte ich es auch gar nicht erwartet. Vielleicht doch noch etwas zur Auflockerung der Gewitterwolken: „Nein, was Sie aber auch alles für Waren in Ihrem Geschäft vorrätig haben“, Geschäft, wie viel nobler klingt das doch als Laden, „eine richtige Augenweide!“
Richtig, der erste Sonnenstrahl blitzte von Frau Herbst herüber. Die drei Dicken schienen sich schon ausgeschlossen zu fühlen: „Hier gibt es alles das, was wir gern kaufen.“ Die Betonung des ‚wir’ war nicht zu überhören. ‚Hast du die Verkäuferin, hast du die anderen’, und so säuselte ich weiter: „Also nein, Sie haben ja sogar den berühmten Deoroller Deo-Ex im Regal zu stehen. Wie viel Stück haben Sie denn? 18? Nun, ich nehme neun. Bitte, schauen Sie nicht so. Ich bin ganz bestimmt nicht so frech und verrückt, wie Sie von mir denken. Ich glaube fast, Sie wissen nichts von der sagenhaften Beiwirkung von Deo-Ex?! Ganz im Vertrauen, aber bitte, sagen Sie es nicht weiter, aber warum bitte ich Sie zu schweigen; das können Sie - da bin ich ganz sicher - viel, viel besser als das pompöseste Grab. Ja, also, wissen Sie, mir ist es ja so entsetzlich peinlich vor Frauen, aber nun habe ich Sie neugierig gemacht und bitte Sie um Nachsicht, denn es ist eine intime, eine sehr intime Angelegenheit. Ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen. Und Sie wissen wirklich nichts von irgendeiner Beiwirkung?“
Nichts, nur große Frageaugen.
„Also, es ist nichts Besonderes: Dieses Deo-Ex ist einfach nur schamhaar-entfernend. Sie brauchen sich nie mehr zu rasieren.“
Es gibt nun einmal Menschen, die ich nicht ernst nehmen kann, die für mich eine Herausforderung sind, denen gegenüber ich frech, hochnäsig und schockierend auftrete. Oh, ja, schockiert waren Sie. Eiskalte Blicke, nahe dem absoluten Nullpunkt, kreuzten sich in der sommerheißen Luft, trafen mich aber nicht, weil sie sich auf das Regal mit den ominösen Deorollern zubewegten. Doch dann: "Jetzt aber 'raus, Sie schweinischer Kerl! Dass man sich so'was bieten lassen muss! Vergessen Sie nicht zu bezahlen. Umsonst gibt es hier nichts!"
Seht ihr, Freunde, nur Frau Herbst gab ihrer Entrüstung beredten Ausdruck, behielt aber den Blick für das Geschäft trotz der vielen Minusgrade. Das konnte doch nicht wahr sein: Die drei Dicken waren ganz rotgesichtig geworden und die eisige Kälte war schon von dümmlicher Neugier. Statt das Haupt dieser Tratschen zu gewinnen, hatte ich es mir mit ihm reichlich verdorben. Aber falls ich mich nicht täuschte, würden bald Deoroller verkauft werden.
Die Menschen sind, wie sie sind, wie sie gemacht wurden und wie sie sich selber machten. Glaubt mir, auch mir ist es nicht gegeben, Menschen zu ändern und könnte ich es, ich hätte Angst davor. Aber mir ist es auch nicht gegeben, geballter menschlicher Dummheit verständnisvoll zuzuschauen. Vielleicht bin ich gar nicht so verständnisvoll, wie ich es von mir denke. Das mag es gewesen sein, weshalb ich mich einige Tage später aufmachte, Wirkungen meines ersten Besuches im Laden nachzuspüren und wenn es Not tat, noch eins draufzusetzen.
Der Alte hatte geschmunzelt, als ich ihm von meinem Einkauf erzählte und mich dann gewarnt: „Es sind dumme Frauen, die aus Mangel an eigenem Leben in fremden Leben herumtreten und die sich anmaßen, diese fremden Leben mit ihrer Spießermoral zu wägen und stets für zu leicht befinden. Sie geben ihre Meinung unumwunden zum besten und das, was so unglaublich ist, passiert immer wieder: Sie finden Gehör und viele Leute meinen, das ist es, was ich auch über diese Menschen dachte; und glaube mir, die meisten dieser Leute hatten bisher über all die Beklatschten keinen Gedanken verloren. Ja, sie sind dumm, zu dumm, zu erkennen, wie armselig ihr Leben ist, aber sie sind eine Gefahr und ein gut Teil Unglück in der Welt ist ihnen zu verdanken.“
Hatte er recht? Natürlich hatte er recht! Aber der volle Magen am Abend nützt nichts gegen den Hunger am nächsten Morgen, und das soll heißen, eingekauft werden mußte wieder. Also, laßt uns gehen! Wir wollen endlich sehen, wie es den Deoarollern ergangen ist.
Es mußte die gleiche Zeit sein, wie bei meinem ersten Einkauf, denn die zwei Hunde lagen wieder im Schatten der Treppe und den Hunden hatten sich die zwei schwarzen Kühe hinzugesellt, nachdem ihr Stammplatz im Buswartehäuschen von der Sonne okkupiert worden war.
Ein „Guten Tag“ schallte mir entgegen. Frau Herbst sagte es und es klang sehr neutral, nicht freundlich, auch nicht abweisend oder angriffslustig. Ich wurde also zum Einkauf zugelassen. ‚Wo stehen die Deoroller? Verschwunden sind sie!’ Nur eine der Dicken war im Laden und siehe, ein leichtes Rosa geriet auf ihre Wangen. Das hätte ich ihr gar nicht zugetraut.
„Frau Herbst“, gleich eine winzige Provokation; wie weit darf ich gehen, bis sie sich herausgefordert fühlt, „ich brauche wieder das Übliche. Sie wissen schon.“
Nein, kein Einsprach. Die gefüllten Tüten gelangten auf den Verkaufstisch, ohne dass ich befürchten muss, sie zerplatzten. „Frau Herbst, sagen Sie bitte, die Deoroller sind wohl ausverkauft?"
„Ich weiß auch nicht, was plötzlich in die Leute gefahren ist. Die Roller standen immer herum, niemanden interessierten sie. Nein, diese neumodischen Dinge! Nun wollen plötzlich alle gleich riechen. Ich habe schon nachbestellen müssen.“
„Nicht, dass vielleicht die Beiwirkung Wirkung zeigte?"
„Jetzt fangen Sie schon wieder an damit! Sie sind ein unmöglicher Kerl. Sie werden es sich doch noch mit mir verderben.“
Aber der Dicken war auf meine Frage ein unwillkürliches, leises, rosarotes Kopfnicken entfahren, und ich brauchte nicht weiter zu fragen.
Ich packte meine Einkäufe ein und wandte mich mit einem ''Nichts für ungut, Frau Herbst" zum Gehen.
„Nichts für ungut“, hörte ich die Verkäuferin hinter mir. Das war mehr als eine Überraschung für mich. Ihr wäret sicher auch überrascht gewesen, denn klang das nicht wie eine Entschuldigung? Und das, wo ich sie doch hinters Licht geführt hatte. Ihr Verkaufstrieb hatte über meine Frechheit gesiegt.
‚Nun, wollen wir es dabei belassen’, sagte ich mir ‚und keins mehr draufsetzen.’ Heute hatte sie es wirklich nicht verdient. Da kenne sich noch einer aus mit den Menschen und mit sich selbst! Aber können wir einen Menschen soweit kennen, dass es an ihm nichts mehr zu entdecken gibt? Hängt das nicht von zweierlei ab? Zum einen davon, dass der zu Entdeckende viele Ecken und Winkel hat, gefüllt mit geheimen Botschaften seines Lebens, aufzufinden durch ein Labyrinth von Gängen, die es auch erst zu entdecken gilt. Und je nach der Aufeinanderfolge der Entdeckungen bauen wir uns ein Bild dieses Menschen und es ist immer wieder ein neues Bild, wenn wir uns einen neuen Eingang in das Labyrinth verschaffen, weil Reihenfolge und Blickwinkel verändert sind. Zum anderen hängt die Dauer des Entdeckens vom Entdecker ab. Vor allem darf der Suchende nie glauben, alles entdeckt zu haben und er muß immer wieder einen anderen Eingang erspüren zu den Schätzen des Lebens. Und es muß ihm Spaß machen, unbändige Freude!
Ach, ich höre euch, wie ihr sagt: Ja, Herr Lehrer. Glaubt mir, nichts liegt mir daran, euch zu belehren. Es waren die Gedanken des Alten und meine, und ich weiß heute nicht mehr, wer was sagte. Ich schreibe es auf, damit ich meine eigenen Worte beherzige und damit andere, die so bisher nicht dachten, sich ein verändertes Bild vom Kennenlernen zusammendenken können. Zu schnell haben wir ein Urteil über einen Menschen bei der Hand.

Donnerstag, 23. Oktober 2008

Die Aufzeichnungen des Uwe Holl, alias Martin W. (1)

Wie versprochen, hier die Aufzeichnungen (Teil 1) des Uwe Holl , der sich in seinem Text Martin W. nennt.

GRENZGEBIET

Die Aufzeichnungen des Martin W.


I. Ich befahre einen zweinamigen Fluss, erwache als Angler und höre eine Geschichte

II. Ich ermutige Dorffrauen und ernte dafür eine kleine Feindschaft, die sich in Sympathie verwandelt

III. Abendwind I und II

IV. Ich erlebe unfeierliche Feierlichkeiten

V. Abendwind III

VI. Ich besteige einen Berg und stelle Fragen


I.

Es gibt einen Fluss, an dessen Oberlauf zwei Länder aneinander grenzen. Im Nordland heißt der Fluss Bleibdaheim, im Südland dagegen Immeranders. Mag sein, dass das Südreich ein Land voller Philosophen war, denen es der Satz: ‚Alles fließt.’ angetan hatte; mag sein, dass in den Menschen des Nordlandes von alters her die Angst vor Stromschnellen und Strudellöchern geschürt wurde. Mag auch sein, dass im Nordland Menschen am Wirken waren, die ihre Mitmenschen für etwas Besonderes aufbewahrten und deshalb niemanden abhanden kommen lassen wollten. Vielleicht hieß der Fluss im Norden auch Pleudoham und im Süden Imiranda. Niemand konnte sich unter diesen Wörtern etwas vorstellen und so wurden die Namen des Flusses veredelt.

Als ich im Sommer diesen Fluss heruntergefahren kam, machte ich am Südufer Rast. Unter dicken Korbweiden legte ich mich zum Schlafen nieder. Wieder erwacht, sah ich zu meiner Rechten einen Alten sitzen: „Wird wohl schon kühl, Fremder? Ich bin beim Feuer machen, gleich ist dir wärmer. Setz dich her.“

„Du kennst dich gut aus. Hast auch gleich erkannt, dass ich kein Hiesiger bin.“

„Ich bin oft hier und so kenne ich alle, die hier in der Nähe leben.“

„Auch die Leute vom anderen Ufer?“

„Na, breit ist der Fluss nicht, sehen kann ich auch; wie sollte ich die Leute aus dem Nordland nicht kennen. Und außerdem war ich oft genug am Nordufer. Also...“

„Ich erhielt keine Erlaubnis, am Nordufer anzulegen. Durfte man früher einfach hinüber?“

„Es muss schon lange so sein, dass die Nordischen nichts von uns wissen dürfen. Niemand darf hinüber.“

„Aber du warst dort, oft, wie du sagtest. Und du bist nie ertappt worden?“

„Wer glaubt, etwas Unrechtes zu tun, wird mit Sicherheit dafür büßen, selbst wenn es nach den Gesetzen rechtens ist, was er tat.“

Der Alte zündete einen Holzstoß an und sagte: „Dein Boot liegt sehr tief. So kommst du nur langsam voran.“

„Mir liegt daran, langsam voranzukommen.“

„Du suchst Urlauberruhe?“

Ich wies auf das Boot: „Weißt du, das Boot hat keinen Motor; ich lasse mich zur Mündung

treiben.“

„Oho, ein weiter Weg. Es könnte sein, dass dir die Zeit lang wird.“

Die Sonne war untergegangen. Im Schein des Feuers sah ich seine starken, buschigen Augenbrauen, seine kräftige Nase und dunkel glühende Augen. Seine Hände dagegen waren feingliedrig. So redefreudig er nach den ersten Worten schien, so still war er nun.

Ich hatte Zeit damals, viel gestohlene Zeit, weil ich sie nur für mich wollte, weil ich mich mit dieser Zeit aufgemacht hatte, allein zu sein, um neue Menschen zu suchen. In Unfrieden mit Bekannten und Verwandten hatte ich mich davongestohlen, hatte ich nicht den Mut gehabt, zu sagen: Ich verschwinde von hier, weil wir uns gegenseitig langweilen und ich hungrig auf andere Menschen geworden bin.

„Ich habe Hunger wie ein Wolf. Du könntest mir sagen, wo ich eine Kneipe finde.“

Der Alte antwortete: „Du kannst mit zu mir kommen. Es ist nicht weit. Wenn es dir bei mir nicht gefällt, kannst du immer noch eine Kneipe suchen.“

Als wir das niedrige Häuschen betreten hatten, sagte ich: „Das Haus ist nicht sehr groß, aber es lässt sich hier sicher gut wohnen.“

„Die Hütte ist für mich allein viel zu groß. Ich bin einmal hier eingezogen, weil sie eine schöne Lage zum Fluss hat.“

Der Fluss, an dem er sich tagsüber aufhält und in dessen Nähe er auch nachts bleibt.

„Es gefällt mir. Hier könnte ich länger bleiben.“

„Du kannst bleiben, solange du willst“, sagte der Alte, während er sich eine Pfeife anbrannte. Und dann: „Wenn du kein Urlauber bist, was bist du dann?“

„Ich bin weggelaufen.“

„Du hast also die Flucht ergriffen. Dort, wo du zu Hause bist, weiß niemand wo du bist. Hier weiß niemand, wer du bist. Du bist allein?“

„Und du? Mir scheint, du lebst auch allein.“

„Ja, sicher. Die Zeit, als ich nach Gesellschaft gierte, als ich glaubte, ohne Menschen um mich zu haben, wäre das Leben Unsinn, als ich meinte, Aufmerksamkeit erregen zu müssen, die Zeit ist vorüber. Wenn jemand glaubt, mich aufsuchen zu müssen, soll er kommen. Alle Menschen sind mir interessant genug, dass ich mit ihnen spreche und mir ihre Geschichten anhöre. Aber ich laufe niemandem hinterher.“

„Können sich Menschen nicht auch entgegenkommen?“

„Wo sollen sie sich treffen, auf halbem Wege? Woran merkst du, dass Menschen, denen du entgegengehen möchtest, dir entgegen kommen?“

„Du sagtest, es besuchen dich Menschen, die dir Geschichten erzählen. Kommen sie dir nicht entgegen?“

„Meist treibt sie die Neugier her.“

„Mich hast du an dein Feuer und in dein Haus gebeten.“

„Ich sagte schon, du kannst gehen, wann du willst.“

„Mich interessiert, warum du an diesem Fluss lebst. Ein Grenzfluss und besonders dieser hat immer etwas schamlos Trennendes, und ein viele Kilometer breiter Streifen zu beiden Seiten ist fast tristes Niemandsland. Die Menschen, die hier leben, scheinen wenig Interesse am Leben und Treiben in der ganzen übrigen Welt zu haben. Beinahe hätte ich gesagt, sie leben ohne Interesse an den Menschen, die nur wenige Meter jenseits des Flusses leben. Aber ich irre mich wohl. Dieses Interesse muss stückweise amputiert worden sein. Menschen zu hassen, ist vielleicht menschlicher, als sie nicht zur Kenntnis zu nehmen. Aber noch unmenschlicher ist es, sie nicht zur Kenntnis nehmen zu können. Was ich bisher von dir erfahren habe, lässt mich glauben, dass es auf der anderen Seite Menschen gibt, mit denen dich soviel verbindet, dass du hier geblieben bist, um in der Nähe zu sein, wenn die Möglichkeit da ist, hinüberzugelangen.“

„Du gehörst wohl zu jenen, die schnell mit einem Urteil bei der Hand sind? Das ist nicht gut. Aber ich glaube eher, du gehörst zu den Neugierigen. Du sagtest, du hättest keine Eile. Dann kannst du dich sicher noch etwas gedulden.“

„Tut mir Leid.“

„Dort hinten, das ist nun dein Bett.“

Wovon war ich erwacht? Waren es die Steine im Fluss mit ihrem Gegrummel? War es die Sonne? Das Vogelorchester? Es war wohl der Hunger, der durch den Duft von heißem Bratenfett sich in mir meldete.

„Auf, auf, heute ist Angelwetter. Du bist doch Angler?“

„Ja, das bin ich. Was brutzelt denn da?“

„Es wird dir schmecken.“

Überlegt einmal, Freunde: Ihr seid an den heimischen Herd, an die heimische Kost gewöhnt. Ihr geratet durch Umstände in eine fremde Umgebung, werdet von einem alten Mann aufgelesen, und nach der ersten Nacht plagt euch der Hunger. Ihr bekommt Spiegeleier vorgesetzt, in denen der Speck glänzt, und aus einem großen Glas dampft euch Teeduft entgegen. Würdet ihr so gierig über das Essen herfallen, wie ich es tat? Ohne Hemmungen verschlang ich meine Portion, die neue Umgebung beeindruckte mich nicht: Offensichtlich fühlte ich mich wohl - nein, nicht wie zu Hause dort hatte ich mich schon lange nicht mehr wohl gefühlt - und die Aufforderung zum Angeln hatte ein gut Teil dazu beigetragen.

Nach dem Frühstück zogen wir an den Fluss, an eine Stelle, wo Weiden Schattenkühle verbreiten würden, wenn die Sonne stieg, und wo der Fluss eine kleine Insel aus seinem Lauf hervorgebracht hatte. Aus dem Rucksack kamen seltsame Gerätschaften zum Vorschein. Angelruten fehlten.

„Angelst du ohne Rute?“, wollte ich wissen.

„Ohne Rute, wir brauchen keine. Du siehst, hier in der Bucht fließt das Wasser ganz ruhig. Tief ist es auch nicht. Nimm diese Gummischnur, wate durchs Wasser zur Insel, binde die Schnur an einen Stein, komm zurück und du wirst sehen, wie schnell wir unsere Fische fangen.“

Von der Insel zurück, sah ich, dass der Alte die Haken beködert hatte, die an einer Hauptschnur hingen. Sie war an der Gummischnur befestigt und durch deren Elastizität konnten die Haken in jeder beliebigen Entfernung den Fischen vorgeführt werden. Sehr einfach war das alles und bald stellte ich fest, sehr erfolgreich war es auch.

Während wir von Zeit zu Zeit einen Fisch landeten, erzählte ich Paul - so hieß der Alte - von mir und von den Gründen meiner Flucht. Als ich geendet hatte, sagte er: „So ist das also mit dir. Weggelaufen bist du aus Neugier auf andere Menschen. Was hast du eigentlich getan gegen die Langeweile? Ich glaube, du vermochtest nicht, dir Räume zu gewinnen für dich allein, hast gedacht, ohne andere Menschen, die ständig um dich sein müssen, ist das Leben nichts wert. Das ist ein großer Irrtum. Jeder Mensch muss Zeit für sich allein haben, Zeit, in der er nur seiner Wege geht. Denke mal darüber nach.“

„Kann schon sein, dass ich mich zu sehr an Menschen gekettet habe, die sich wiederum an mich ketteten. Erzählst du mir von dir? Mich interessiert sehr, warum du hier lebst. Wie ist das mit dem Fluss?“

„Also gut. Vertrauen gegen Vertrauen! Mich hält ein Liebesmagnet hier fest, und meine Liebe gehört auf die andere Seite des Flusses. Mit so vielen Sehnsuchtspolstern ausgestattet, dass sie als Liebesnahrung bis über meinen Tod reichen, werde ich diese Liebe nie loswerden. Ich bleibe hier, oder ich gehe hinüber. Etwas anderes geht nicht.“

Ich hatte ihn gelockt, indem ich sprach und war nun erschrocken, dass er einem Fremden anvertraute, was ihn an diesem Fluss hielt.

Dies ist die Geschichte des Alten: Früher machten sich die jungen Leute aus dem Südland einen Spaß daraus, heimlich den Grenzfluss zu durchwaten und sich im Nordland umzusehen. Besonders die jungen Männer - unter ihnen Paul - verbrachten manches Wochenende im Nordland. Ihnen hatten es die Mädchen angetan, die besonders hübsch sein sollten und als unnahbar galten. Welch eine Aufgabe, welch ein Abenteuer!

Alljährlich zur Sonnenwende wurde im Nordland eine Schönheitskönigin gewählt und - richtig, Freunde - genau diese und keine andere wollte Paul erobern. Eine Schönheitskönigin ist ein Mädchen, das tagelang nach seiner Wahl so dicht umlagert wird, wie ein weltbekanntes Gemälde in der Urlaubssaison. Während die meisten Leute eine Weile schauten, wie schön denn eine Schönheitskönigin ist und sich bald wieder handgreiflicheren Genüssen hingaben, verbrachte Paul seine Zeit in der Nähe des Mädchens. Früher oder später hätte er ihre Aufmerksamkeit erregen müssen; aber es kam ihm ein wenig der Zufall zur Hilfe. Einige junge Männer waren sich über der Frage ‚ist die Schönheitskönigin wirklich die Schönste weit und breit?’ uneins geworden, woraus sich in wenigen Minuten eine Massenprügelei entwickelte.

Nun war Paul schon immer Prügeleien aus dem Weg gegangen und so auch jetzt. Und bei diesem Aus-Dem-Weg-Gehen nahm er die Schönheitskönigin bei der Hand und führte sie weit, weit abseits. Ohne Schaden dem Getümmel entronnen, atmeten beide auf und die Königin der Schönheit konnte nicht anders und lachte. Dieses Lachen nun war es, das Paul seine - sagen wir - angelsportliche Aufgabe vergessen ließ, weil es eine erste Liebesspur in ihn einrillte. Sie verabredeten sich für das folgende Wochenende, dann für das darauf folgende und so weiter. Es muss eine große Liebe daraus geworden sein.

Aber wie so oft, wenn eine große Liebe herangewachsen ist, bleiben die großen Nöte nicht aus: Ihr wisst doch, die Grenze. Trotz der großen Liebe war es ihnen nicht möglich, zusammenzuleben. Die Politiker des Nordlandes verschlossen sich und ihr Volk der großen Welt, worüber die Politiker des Südlandes so sehr beunruhigt waren, dass sie nicht zuließen, Menschen aus dem Nordland in ihrem Lande leben zu lassen.

An einem Sonnabend war das Mädchen nicht in das Wäldchen vor dem Fluss gekommen und so war es geblieben. Paul fand später heraus, dass es verhaftet worden war ‚wegen unerlaubten Umgangs mit einer unerwünschten Person des Südlandes’, wobei dem Mädchen der Umgang nie erlaubt worden wäre. Von wem auch? Den Ausschlag aber gab das ‚einer nordischen Frau unwürdige sexuelle Verkehren vor der Ehe’. Von den Behörden seines Landes, diese durch die entsprechenden Behörden des Nordlandes dazu aufgefordert, wurde Paul verwarnt: Ihm wurde strenge Bestrafung angedroht für den Fall, er würde von ‚den zuständigen Organen der nordischen Staatsmacht auf deren Territorium aufgegriffen’.

So lebte der Alte nun schon viele Jahre am Fluss, ohne sein Mädchen je wieder gesehen zu haben. In ihm brannte die Sehnsucht weiter, die Hoffnung und leise loderte schon seit einigen Jahren die Angst, sie nie wiederzusehen und die Angst, sie wiederzusehen. Das war die Geschichte des Alten. Und so lustig sie begann, so traurig ist ihr Ende.

Seht ihr, Freunde, ihr ahnt, ein Mensch trägt eine seltsame Geschichte mit sich herum, und wenn ihr sie gehört habt, seid ihr Mitinhaber einer großen Not und beginnt zu überlegen, wie aus dieser Not eine Freude zu machen ist.

Und so kam ich auf den Gedanken, mit dem Alten illegal das Nordland zu bereisen und nach seiner großen Liebe zu suchen. Ich dachte, das sei die einzige Möglichkeit, ihn von seiner großen Not zu befreien. Aber kann man eines anderen Menschen Glück herbeifuhrwerken, wenn man sein eigenes nicht bemeistern kann?

Sonntag, 19. Oktober 2008

Mein erstes Seminar

Es hat geklappt. Ich habe mein erstes Seminar "Autobiografisches Schreiben" gehalten. Es war allerdings Zufall, dass eine Thüringerin auf das Angebot aufmerksam wurde, nachfragte und ihre drei Freundinnen überredete, fünf Tage lang auf Usedom Lebenserinnerungen aufzuschreiben.

Das war ein Quartett: Verlassen, einsam geblieben und zwei Witwen, jede 65 Jahre alt und Großmutter, meist vergnügt.
Auch das war das Quartett: Eine Tonangeberin, eine Zurückhaltende, eine Widersprechende, eine Schöne und keine Meckerliese.

Am ersten Tag stellte ich das Programm vor: Vormittags würden die Geschichten vom Vortag besprochen, nachmittags sollten die Frauen erfahren, wie Geschichten geschrieben werden können; wir legten fest, zu welchem Thema ab 17 Uhr geschrieben werden konnte. Niemand musste, alle taten es.

Da jede Thüringerin viele Geschichten der Freundinnen kannte, wäre es nicht so schlimm gewesen, sie zum Vorlesen ihrer Geschichten zu bewegen, wäre da nicht noch Uwe Holl gewesen - Uwe Holl, kürzlich wegen versuchten Totschlags zu viereinhalb Jahren verurteilt und ab morgen in Stralsund im Gefängnis.

Ich hatte ihn in Koserow angerufen, ihm vorgeschlagen, das Seminar zu nutzen. Er wollte nicht, keine Zeit und vier fremde Frauen, bewahre. Es wurde ein kurzes Telefonat. Dass ich weiß, was wir einander sagten, liegt an meinem Diktiergerät (Sturmfeld-Leser kennen es schon.).
"Keine Zeit zählt nicht. Rentner haben immer Zeit", entgegnete ich. "Und die vier Frauen sind vielleicht die letzten, die Sie in den nächsten Jahren zu sehen bekommen."
"In meinem Alter", murmelte er.
"Das Seminar ist ein Geschenk."
"Also gut, wenn es mir nicht gefällt, kann ich ja aufhören."
Typisch Holl, dachte ich.

Er kam nach Heringsdorf, blieb bis zum Seminarende am Freitag, hielt sich aber nicht an den Themenplan und legte mir eine Geschichte hin, die ich gut fand, so gut, dass ich Sie Ihnen in nächster Zeit kapitelweise in diesem Blog vorstellen werde.

"Und was ist mit der elektronischen Bürgerzeitung?", fragen Sie. Gemach, zwei Interessierte hatten sich gemeldet, mit deren Probetexten ich jedoch nicht zufrieden war. Sie brauchen noch Anleitung. Die erhalten sie in den nächsten Wochen.

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Donnerstag, 22. Mai 2008

Pläne

Liebe "Sturmfeld"-Leser,

schön, dass Sie meine Einladung neugierig machte zu schauen, was Uwe Holl mir noch zu erzählen hat. Doch muss ich erst seine Verurteilung abwarten; so haben Holl und ich uns geeinigt. Im Herbst werde ich ihn im Gefängnis besuchen. Sie können sich vorstellen, wie gespannt ich bin.

Ich habe ein neues Leben begonnen.

Nach meinem Weggang von der Insel-Rundschau bin ich aus Koserow weggezogen. Ich wohne jetzt in Heringsdorf, im Dünenweg, fünf Minuten von der Promenade und damit fünf Minuten von meinen möglichen Kunden entfernt.


Urlauber sollen meine Kunden werden, jene, die ihren Verwandten und Bekannten Geschichten aus ihrem Leben hinterlassen möchten, aber zum Aufschreiben professionelle Hilfe suchen. Gerade bereite ich Faltblätter vor, die ich ab Ende September auf der Promenade verteilen werde. Wenn auf der Seebrücke Musiker Akkordeon spielen dürfen, darf ich lautlos Faltblätter verteilen.

Außerdem plane ich eine Bürgerzeitung für die Insel, eine reine Lokalzeitung, gefüllt mit Menschengeschichten. Alle anderen Nachrichten können die Insulaner im Internet finden. Dazu braucht niemand mehr die Insel-Rundschau; die hat irgendwann ausgedient.

Meine Lokalzeitung soll nur im Internet erscheinen. Doch die Arbeit kann ich allein nicht schaffen. Deshalb suche ich Hilfe. Wer gern schreibt und viele Leute auf der Insel kennt, kann sich bei mir melden, einfach per Kommentar.

Helfen Sie mir?

 
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