Montag, 10. November 2008

Die Aufzeichnungen des Uwe Holl, alias Martin W. (3)

Teil 3 der Aufzeichnungen des Uwe Holl, der sich in seinem Text Martin W. nennt.

III. Abendwind 1

Zeit war vergangen, Wochen? Ich kann es nicht mehr sagen. Seit dem Ende der Zwistigkeiten mit den Frauen aus dem Dorf war Ruhe eingekehrt, Ruhe, die ich gesucht hatte, zum Nachdenken, zum Erinnern. Richtig, ich machte keine Pläne, meinte, alles was mir not tat zu haben. Niemanden vermißte ich von jenen, die ich vor meiner Flucht kannte.

Es war heiß geworden. Ich hatte die am Morgen gefangenen Fische zum Braten vorbereitet. Das Braten wollte ich auch heute dem Alten überlassen. Ich saß in der Badewanne und pfiff die alten Lieder. Seltsam, die Menschen, mit denen ich Jahre und Jahre zu tun hatte, waren mir fremd geworden; einige Namen fielen mir schon nicht mehr ein, und ich hatte Mühe, mich an die Gesichter dieser Menschen zu erinnern. Die Musik dagegen kam von allein und es waren doch die alten Lieder. Ich hörte die Akkorde, Textfetzen waren da, und ich war wütend darüber, daß ich nicht gleichzeitig singen und pfeifen konnte.

Draußen im Fluss rumorten die Steine auf dem Weg, die Welt kennenzulernen. Und sie büßten für ihre Neugier auf die große Welt mit ihrem steinernen Leben.
"Überall, wo ich war, ließ ich ein Stück meines Lebens zurück; auch ein Grund, seßhaft zu werden. Hier bewahre ich den Rest meines Lebens, er geht mir nicht verloren.“ Hatte nicht so der Alte gesprochen? Und weiter gesagt: „Jeden vergangenen Tag habe ich so um mich, und mein Leben wird dadurch jeden Tag um einen Tag lebendiger?" Das waren mir nun keine mystischen Worte mehr. Ich hatte bisher nur nicht in der Badewanne gesessen, alte Lieder gepfiffen, die Steine poltern hören und dabei an die Worte des Alten gedacht.

Das ist doch noch nicht der Abendwind, denke ich, als ich hinter mir das Fenster des kleinen Badehauses knarren höre, und: Da ist jemand, und ich drehe mich um, und höre mich sagen: "Ich habe die Tür doch nicht abgeschlossen. Wie soll das gehen ohne Schloß und Schlüssel? Warum kommst du durch das Badehausfenster?"
"Psst, sing weiter, bitte.“
„Ich würde sagen, ich habe gepfiffen.“
"Du hast gesungen. Bitte, pfeif oder sing, als sei ich nicht hier.“

Wieder war sie da, die Vergangenheit mit ihren Sprüchen: Du sollst einer Frau nichts abschlagen; es könnte das letzte Mal sein, daß sie dich um etwas bittet. Ich wüßte nicht zu sagen, was ich damals pfiff, oder sang ich? Ich spürte diese Frau hinter mir stehen und fragte mich nur: Warum steigt eine Frau zu mir durchs Badehausfenster?
Und sie: "Du kennst schöne Lieder, die habe ich noch nie gehört. Entschuldige, ich wollte dir keinen Schreck einjagen." Wieder durch das Fenster, als hätte das Haus keine Tür! Nur noch die Lichtspur Ihrer dunklen, offenen Haare und alles war wie vor zwei Minuten und nichts war mehr wie vor zwei Minuten.
Warum steigt eine fremde Frau zu einem Mann durchs Badehausfenster, als wäre sie der Abendwind? Ist der Abendwind eine Frau und lügt uns nur unsere Sprache einen Herrn Abendwind vor? Glaubt mir jetzt schon, daß der Abendwind eine Frau Abendwind ist. Wer's nicht glaubt, muß weiterlesen; wer's so weiß wie ich, für den ist alles gesagt.

"Du ißt heute nicht richtig," sagte der Alte.
"Das macht der Abendwind! Ich muß immer denken, daß der Abendwind eine Frau sein könnte. Was meinst du?"
"So wie der Morgenwind eine Frau ist, muß es auch der Abendwind sein."
"Was für eine Frau ist der Morgenwind?"
"Warum fragst du nicht: was für eine Frau ist der Abendwind?"
"Wenn er eine Frau ist, weiß ich wie sie ist. Und wie ist das nun mit der Dame Morgenwind?"
"Der Morgenwind ist keine Dame. Er ist eine blonde Frau mit üppigem Leib und üppigen Lippen, grau-grünen Augen, mit einer hell-klaren Stimme. Wenn sie lacht, sind ihre Augen nicht zu sehen, sie wirft dabei den Kopf ein wenig in den Nacken und ihr Hals ist dann sehr schön. Man verliebt sich in sie und es gibt keine Rettung.“
So muß sie gewesen sein, die Frau, die ihn an diesen Fluss fesselt, die nach so langen Jahren seine einzige Sehnsucht ist, die Frau, von der er nie wieder hörte und die wiederzusehen seine große Angst ist.
"Sagst du mir jetzt, was für eine Frau der Abendwind ist?"
"Der Abendwind ist eine Lichtspur dunklen Haares und kann durch ein Badehausfenster steigen. Ihre Stimme ist sanft und dunkel und sie hört gern alte Lieder."
"Dir ist wohl heute die Vroni vom Kollak über den Weg gelaufen?"
"Vroni ist mir schon oft über den Weg gelaufen. Du solltest aber wissen, daß sie dunkelrote Haare hat. Aber für ein Mädchen, das ich nicht mag, guckt sie mir zu heißhungrig durch die Männerwelt. Sie habe ich heute nicht gesehen. Aber mal etwas anderes. Am nächsten Wochenende ist im Nordland der Große Volksfeiertag. Sollten wir nicht versuchen, ..."
Warum redete ich so? Wollte ich der große Verlocker sein? Dröhnte Mitleid in mir? Mußte ich mich als der große Entzauberer geben? Wollte ich an anderer Leute Glück herumschmieden? Oder wollte ich meine Neugier um eine geheimnisvolle Frau besänftigen?
"... ein wenig Nordluft schnuppern?“
„Nein, ohne mich und ohne dich."
"Es kann nicht viel passieren: Die Wachen am Fluss werden ihre Alkoholration im Leib haben und guter Dinge sein. Eine Kleinigkeit für dich und für mich auch, wenn du dabei bist."
"Wir werden uns schlafen legen. Du hast zuviel Abendwind abbekommen, wenn er auch nicht Vroni hieß. Wie hieß der Abendwind eigentlich?"
"Er wird noch einen Namen bekommen. Gute Nacht."

Er hatte nicht abgelehnt, hatte seine Entscheidung nur vertagt. Mein Gott, Junge, mische dich nicht in andere Leben ein! Aber war der Alte denn glücklich mit seiner Sehnsucht, seinen Träumen?
Alles, was er tat, tat er bedächtig. War das seine Art, seine ständige innere Unruhe zu bekämpfen? Oder bildete ich mir sie nur ein?
Alles war möglich, so wie immer alles möglich ist, wenn man auch nicht alles ertragen kann. Daß man nicht alles ertragen kann, ist wohl der Grund, daß man nicht alles erlebt.

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