Sonntag, 16. November 2008

Die Aufzeichnungen des Uwe Holl, alias Martin W. (4)

Teil 4 der Aufzeichnungen des Uwe Holl, der sich in seinem Text Martin W. nennt.

III. Abendwind 2

Zwei Tage später:

Es wird Abend. Mit dem Abend steigt kühler Dunst aus den Wiesen. Der Alte und ich hatten Holz für den Winter gefällt, hatten kaum ein Wort miteinander gewechselt. Machten ihn die Gedanken an das Nordland wortkarg?

Ich sitze in der Badewanne, ein Glas Tee auf dem Hocker neben der Wanne, der Zigarettenrauch vom Selbstangebauten des Alten brennt auf der Zunge. War dem Alten die Arbeit zu schwer geworden? Seine Hände! Warum hatte ich heute nicht auf seine Hände gesehen?! Sie hätten es mir verraten. War ich schon wieder so sehr mit mir beschäftigt?

Ich muß mir gleich seine Hände anschauen. Ihr wißt doch, er hat feingliedrige Hände und solche Hände sprechen, wenn wir nur richtig hinsehen.

Die Abendkühle schleicht sich nun auch in das Badehäuschen und lockt aus dem Badewasser Dampf empor. Merkwürdig ist der Alte: Er kann sein Gesicht stumm machen, und es ist immer ein freundliches Gesicht. Mir dagegen kann jeder, der will, aus dem Gesicht meine Gedanken ablesen. Das meine ich, was meinen andere Menschen? Ich hatte niemanden dazu befragt. Ich werde mit dem Alten darüber sprechen.

Nein, nicht schon wieder! Und doch, das Badehausfenster knarrt. Nein, ich werde mich nicht umdrehen. Ich weiß doch, wie der Abendwind aussieht: Eine Lichtspur duftenden offenen Haares.
"Du bist es, mit den dunklen, offenen Haaren."
"Darf ich hereinkommen?"
"Bitte, aber durch die Tür."
"Laß mich durchs Fenster steigen. Vorgestern mußte ich es, heute würde es mir Spaß machen."
"Also gut, komm herein, reiche mir den Tee und setze dich auf den Hocker. Und dann erklärst du mir, was das alles zu bedeuten hat."
"Vorgestern hast du gesungen, als ich kam. Das klang so freundlich. Ich fühlte mich richtig eingeladen. Heute bist du brummig."

"Ich finde dich ganz schon frech. Du steigst zum zweiten Mal zu mir ins Badehaus und ich soll vor lauter Freude darüber Hymnen singen? Warum machst du das alles?"
Sie hat ja Bunte Augen, große bunte Augen. Sie schaut auf mein Teeglas, keine Antwort. "Möchtest du rauchen? Ja? Aber Vorsicht, es ist Selbstangebauter. Hier! Trink einen Schluck Tee."
"Was ist das für ein Tee?"
"Schwarzer und Pfefferminztee gemischt, nach dem Rezept eines alten Mannes, der wissen wird, was den Durst löscht."
"Er schmeckt nicht besonders gut, der Tee."
"Dir schmeckt er nicht, mir dagegen schmeckt er gut. Vielleicht verrätst du mir wenigstens deinen Namen."
"Ich bin Marsha. Und du?"
"Ich heiße Martin. Dein Name ist hier selten. Ich habe dich noch nie im Dorf gesehen. Also, wie ist das nun mit dir?"
Ja, wie ist das nun mit dem Abendwind? Wo kommt sie her, wohin will sie, diese Lichtspur?

"Hier ist mein Name bestimmt selten. Ich komme aus dem Nordland und bin erst seit vorgestern hier. Ich kam an diesem Haus vorbei, hörte dich singen und dachte, wer so singt, bei dem kann man sich ausruhen. Als ich zur Tür herein wollte, sah ich einen alten Mann kommen. Ich lief hinter das Haus, um nicht gesehen zu werden und stieg durchs Badehausfenster. So war das."
"Aus dem Nordland also. Und du bist einfach so gekommen. Könnte es nicht sein, daß es für dein Kommen einen Grund gibt? Übrigens, der Alte Mann ist mein bester Freund und es gibt keinen Grund, vor ihm davonzulaufen, so ist das."
"Sei nicht wieder brummig."

"Deine Erklärung: Bist du sicher, das war alles, was du mir zu erzählen hast?"
"Ich bin mir nicht sicher. Ich erzähle nicht gern von mir.
Ach, dieser Abendwind! Marsha, Marsha, ein Badehausfenster zu durchsteigen, war dir ein Leichtes. Aber mir von dir zu erzählen, war dir eine zu hohe Hürde. Sie wird ihre Gründe haben, so schweigsam zu sein, und lieber sollte sie weiter so schweigsam bleiben, als mich, belügen. Also erzählte ich von mir, von den Streichen als Junge, aus der Schulzeit. Ich erzählte aus der Studentenzeit (Was macht ein Student, wenn er nicht studiert?).
Ich will euch jetzt nicht mit meinem Leben behelligen, aber vielleicht läßt sich aus den Erinnerungen die eine oder andere Geschichte hervorschreiben, wenn ich mit dieser fertig bin.

"Du kannst schön erzählen. Es macht Spaß, dir zuzuhören. Erzähle mir noch eine Geschichte." "Es ist spät geworden, wir werden ins Haus gehen, zum Alten. Das viele Sprechen hat mich hungrig gemacht."
"Ich werde gehen", sagte sie.
"Wo willst du bleiben in der Nacht? Wo warst du in den vergangenen Nächten?"
"Ich habe Arbeit im Hotel in der Stadt gefunden. Dort wohne ich auch."
"Du kannst bei uns bleiben, wenn du willst."
"Ich werde gehen."
"Also willst du nicht hier bleiben?"
"Ich werde gehen. Danke für die Geschichten."

Ihr Gesicht war über mir,und ich spürte ihre Lippen in meinem Gesicht. Dann ging sie - ich denke, ihr wißt schon, wohin - natürlich zum Badehausfenster, und ich machte mir nicht die Mühe, ihr zu erklären, daß das Badehaus mit einer richtigen Tür versehen ist.

Der Alte saß auf der Bank vor der Hütte.

"Seltsam, seltsam! Der Abendwind gelangt nur bis zum Badehaus. Die wenigen Schritte bis hierher können doch nicht zu viel sein."
"Der Abendwind heißtMarsha und war nicht zu bewegen, ins Haus zu kommen. Sie ist, warum, weiß ich nicht, aus dem Nordland gekommen."
"Aus dem Nordland also", waren die letzten Worte, die er heute abend sagte.

Diese wenigen Worte hatten seine große Sehnsucht hervorbrechen lassen. Trotz der schweren Arbeit am Tage, trotz der schweren Gedankenlast, dieser Bürde, die zu einem guten Teil ich ihm aufgeschultert hatte, sah ich nur ein leichtes Zittern seiner Hände. Sein Gesicht war ernst. Es brach auch kein Wort aus ihm hervor, als mir beim Abwaschen kurz nacheinander zwei Teller in Scherben gingen. Merkt ihr, Freunde, auch ich hatte nicht meinen ruhigsten Abend, und daß diese Unruhe mit dem Abendwind und dem inneren Schlachtfeld des Alten zu tun hatte, brauche ich eigentlich nicht aufzuschreiben.

Ich hatte mir vorgenommen, heute abend wirst du ihm helfen, die Mühen des Tages zu vergessen, und nun war ich bei ihm und konnte nichts ausrichten. Es war einfach, mir anzusehen, daß Marsha Abendwind in mir eine schwer zu bändigende Unruhe hinterlassen hatte, und ich glaubte, der Alte könne ihre Lippen auf meiner Wange sehen. Und so meinte auch der Alte, mich mit meinen Gedanken allein lassen zu müssen. Wir beschwiegen uns und glaubten, auf diese Weise jeder seiner Erregung Herr zu werden.

Gemach, Freunde, gemach. Wir werden bald sehen, wer Sieger wurde in diesem abendlichen Kampf, die große Sehnsucht oder die Vernunft.

Ich hatte immer geglaubt, daß mir bereits im Mutterleib zwei linke Hände herangewachsen waren, und ich hatte deshalb eine Scheu vor Arbeiten, die von meinen Händen Fingerfertigkeiten verlangten. Hier erst, beim Alten, lernte ich, daß meine Hände zu mehr taugen, als zum Bleistifthalten. Ich hatte das Ausmisten im Kuhstall gelernt, konnte Kühe melken; ich konnte mit Säge und Beil umgehen. Und ich hatte in den vergangenen Tagen das Mähen mit der Sense gelernt; wir ernteten.

"Wenn du so weitermachst, kannst du im nächsten Jahr selbst einen kleinen Hof übernehmen. In letzter Zeit sind einige Wirtschaften frei geworden und Acker liegt brach. Die Grenze treibt viele Leute aus dieser Gegend."
''Mir scheint", antwortete ich,"mit den Händen bin ich jetzt flinker als mit dem Reden."
"Was meinst du?"
"Ich meine, meiner Hände Arbeit überzeugte dich, mir ausreichende bäurische Fähigkeiten zu bescheinigen. Aber ich konnte dich nicht überzeugen, mit mir ins Nordland zu gehen, du weißt, der Große Volksfeiertag."
"Ich werde ins Nordland gehen, und ich nehme dich mit. Glaube aber nicht, daß ich es deinetwegen tue. Ich habe endlich erfahren - deshalb war ich häufig in der Stadt - daß sie schon lange wieder in der Grenzstadt lebt. Nun will ich hinüber, sie suchen."
"Deine Entscheidung hat nichts mit mir zu tun?"
"Nichts."
"Und wie ist dir jetzt zumute?"
"Wir müssen zusehen, daß wir mit der Ernte fertig werden. Unser Erntefest werden wir dann im Nordland feiern. Werden wir aber erwischt, haben wir vorläufig keinen Grund zum Feiern. Also an die Arbeit!"

Trotz der Einschränkung waren seine Worte voller Vorfreude. Die Angst, seinem Morgenwind zu begegnen, schien wie in dieser Vorfreude aufgelöst. Nun, Freunde, ihr fragt nicht, wie mir zumute war? Ob ihr es wissen wollt oder nicht, ich schreibe es euch auf: In mir polterten die Gefühle durcheinander, wie die Steine im Fluss es taten. Endlich war es mir möglich, ein wenig zu erleben, was es mit diesem Nordland auf sich hatte. Aber schwer wog der Gedanke, was wird mit dem Alten werden, finden wir seine große Liebe nicht.

Sei es, wie es sei, ihr wißt jetzt, daß gerade eine große Sehnsucht über die Vernunft gesiegt hatte. Oh, ihr Vernünftigen unter meinen Freunden, warum wiegt ihr eure Häupter über so viel Unvernunft?
Was ist denn die Vernunft? Ist sie etwas anderes, als sich selbst und damit stets auch anderen Menschen Zwang anzutun? Und ist dieses Zwang-Antun nicht so weit verbreitet in der zivilisierten Welt, daß es wie alles und jedes einen Namen bekam, der in unserer Sprache Vernunft ist? Verhöhnt diese Vernunft nicht unseren Geist und unsere Sinne? Sie macht aus Menschen Märtyrer; ja Freunde, auch so werden Märtyrer gemacht. Ich habe noch nie einen Menschen sterben sehen, aber ich glaube, diese Märtyrer werden zu jenen gehören, die weinend sterben. Wars der Alte, der so sprach? War ich es? Aber was tut das zur Sache?

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