Sonntag, 23. November 2008

Die Aufzeichnungen des Uwe Holl, alias Martin W. (5)

Teil 5 der Aufzeichnungen des Uwe Holl, der sich in seinem Text Martin W. nennt.

IV. Ich erlebe unfeierliche Feierlichkeiten

Wir hatten den Grenzfluß überquert und näherten uns in weitem Bogen von Norden der Grenzstadt. Es waren an diesem Morgen viele Menschen unterwegs: Jene, die feiern wollten, um so zu Genüssen aller Art zu gelangen, jene, die die Festtage nutzen wollten, auf dem Markt Waren zu verkaufen, um so in den Genuß zusätzlichen Geldes zu gelangen. Ja, Freunde, so unterschiedlich kann man sich Feiertagsgenüsse herbeischaffen.

Die Häuser im Norden der Stadt waren sehr grau. Die Menschen, die darinnen wohnten, waren wohl mit dem Grau nicht zufrieden, denn sie strichen die Fensterrahmen, grellweiß, um etwas Helles in des graue Grau zu bringen. Dadurch steigerte sich das Grau der Fassaden noch. Daß ihnen das nicht zuwider war!? Sahen sie doch, wenn sie aus ihren weißen Fenstern blickten an den Häusern gegenüber, was sie angerichtet hatten.

Im Gegensatz zum Nordteil der Stadt war das Zentrum vielfarbig hergerichtet worden. Rot, grün und goldfarben war alles, behängt mit Fahnen, Transparenten und riesigen Luftballons. Größer konnte der Kontrast zum grau-weißen Norden der Stadt nicht sein. Keine schlichte Feierlichkeit, sondern aufgesetzte Fröhlichkeit, kam es mir in den Sinn. Und während ich mit meinen Betrachtungen beschäftigt war, hetzte der Alte seine Blicke auf die Menschen. Wir hatten das Zentrum schon fast durchquert, als er sagte: "Dort ist ein Cafe, in dem wir etwas essen können."

Kurz nachdem wir sitzen, nimmt am Nebentisch ein junger Mann Platz. Er bestellt Eis mit Kirschen. Die Kellnerin vergißt den Teller für die Kirschkerne. Während der Mann die Kirschen ißt, bemerkt er das Versehen. Offensichtlich traut er sich nicht, um einen Teller zu bitten und behält die Kerne im Mund. Nun bestellt auch das Pärchen an seinem Tisch. Das ist eine Gelegenheit, um den Teller zu bitten. Jedoch der Mund ist voll. Es beginnt ihn zu würgen. Doch nun schlägt das Würgen um in ein Lachen. Er lacht laut los, die Kerne fliegen aus seinem sperrangelweit geöffneten Mund über den Tisch, auf seinen Gegenüber. Dadurch wird sein Lachen noch verstärkt zu einem brüllenden Lachen. Sein über und über bekernter Gegenüber wird rot vor Wut. Das Lachen erstirbt, und im gleichen Augenblick beginnt der Bekernte zu lachen. Er hatte erkannt, warum es so kommen mußte. Wir sind mit dem Lachen davongekommen, und wieder auf der Straße, laufen wir - immer noch amüsiert - weiter bis zum Ende des Stadtzentrums.

Der Alte: "Es ist doch wieder und wieder schwer vorauszusagen, wie sich Menschen verhalten, geraten sie in ungewöhnliche Lagen. Wahrscheinlich werden sie inzwischen gemeinsam einige Schnäpse trinken, und der Befleckte wird dem jungen Mann von seinen Kriegserlebnissen erzählen oder von seiner ersten Freundin, ungefähr so: Siehst du Junge, genau hier, wo jetzt der Kirschfleck ist, traf mich damals ein Granatsplitter. Und das kam so... Oder: Meine erste Freundin war eigentlich meine nullte, denn ich habe sie nie angefaßt. Wir trafen uns manchmal an einem Baum im Park; sie hockte unten im Gras, ich kletterte in den Baum, und wir erzählten über dies und das aus einer Entfernung von vier oder fünf Metern. Ich war gräßlich schüchtern.

Er wird den Jungen sicher kaum au Wort kommen lassen. Aber ist so der Ausgang eines kleinen Malheurs nicht gut? Es hätte auch sein können, daß der Befleckte dem Jungen einige Tage später die Rechnung für die Reinigung oder für ein neues Hemd schickt."

"Es hätte auch so zugehen können", ergänzte ich, "daß der schüchterne junge Mann vor lauter Schüchternheit und Freude über den glücklichen Ausgang seiner Kirschkernspuckerei losgeplaudert hätte, ungefähr so: Ich habe schon so lange keine Kirschen mehr gegessen, und ich habe mich so gefreut, endlich wieder welche zu bekommen. Es ist doch schön, daß an Feiertagen viele seltene Waren unters Volk kommen. Da merkt man so richtig, daß Feiertag ist."

"Und der Besudelte wird antworten: Ja, ja, saure Wochen, frohe Feste. So muß es sein, sonst macht das Feiern keinen Spaß mehr. Und das ist dann wieder so typisch nordisch." Er sprach aber schon wieder ganz nebenher. Ihr wißt ja, Freunde, er war auf der Suche.

Wir gingen auf anderen Straßen zurück zum zentralen Festplatz. Treu und geduldig wie Schafe standen auf dem Platz einige tausend Menschen und lauschten ergeben der Ansprache ihres lokalen Oberhauptes. Es sprach von dem wünschenswerten, friedlichen 'Nebeneinander mit den Nachbarnationen' und ich dachte: nicht friedliches Nebeneinander sondern Friedhofsstille zwischen den Nationen meint er. Als er von den 'Gefahren feindlicher Infiltration' sprach, mußten der Alte und ich schmunzeln, obwohl es uns eine Beleidigung hätte sein müssen. All seine Worte rochen nach Abkapselung, nach Isolation und es war ein schlechter Geruch. Später lobte der Redner den 'dynamischen Aufschwung der Wirtschaft' im Lande und es wurde unruhig in der Menge. (Ganz nebenbei, Freunde: Wie kann es einen Aufschwung geben ohne innere Kraft, ohne Bewegung; denn das 'dynamisch' ist der Physik entlehnt. Bei Aufschwung denke ich immer an den Sport; dort hat das Wort seine eigentliche Berechtigung. Also ist der 'dynamische Aufschwung' eine unglauwürdige Konstruktion im Zusammenhang mit dem Wort Wirtschaft!) Die Unruhe zeigte aber keine Zustimmung zu des Redners Worten an. Sie schwappte nicht bis zum Redner hinüber, oder dieser wollte oder konnte nicht den Inhalt seines Manuskriptes verlassen, sonst hätte er es der Masse heute erlassen, 'alles zu tun für den Frieden'. Ich fragte den Alten: "Was meint er mit 'alles'?" "Niemand weiß, was 'alles' ist. Hier wird ja allerhand getan für den Frieden. Zum Beispiel wird Rad gefahren für den Frieden. Ich kann mir vorstellen, genauso könnte man Bockwurst essen für den Frieden und - Scherz beiseite - Krieg führen, alles für den Frieden. Und auch das wäre lange noch nicht 'alles'. Man müßte den Redner einmal befragen!"

"Ich glaube, das werden wir uns lieber verkneifen." Nun schob sich die Zuschauerkulisse zurück, und es entstand zwischen ihnen and der Rednertribüne eine freie Fläche. "Die Parade "beginnt", sagte der Alte. "Alles wie seit Jahrzehnten. Sowohl das Volk als auch die Tribünen - die Menschen müssen das doch langsam satt bekommen, die alljährlich sich gleichenden Riten."

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