Donnerstag, 30. Oktober 2008

Die Aufzeichnungen des Uwe Holl, alias Martin W. (2)

Teil 2 der Aufzeichnungen des Uwe Holl, der sich in seinem Text Martin W. nennt.

GRENZGEBIET

Die Aufzeichnungen des Martin W.

II. Ich ermutige Dorffrauen und ernte dafür eine kleine Feindschaft, die sich in Sympathie verwandelt

Am nächsten Tag sagte der Alte: „Ich werde heute in die Stadt gehen, habe dort Dinge zu regeln. Möchtest du mitkommen?“
„Nein, ich gehe lieber zum Fluss, angeln.“
„Dann kannst du am Dorfladen vorbeigehen, wir brauchen jetzt mehr Lebensmittel als ich bisher allein.“
Er schnallte seinen Rucksack über, nahm seinen Stock und ging den Weg nach Südwesten, weg vom Fluss. Also verlässt er doch den Fluss, der ihn hier festhält. Es werden wichtige Dinge sein, die er zu regeln hat.
Auf dem Dorfplatz lungerten zwei Hunde im Schatten der Treppe herum, die zum Laden hinaufführte. Am Vormittag hatten sich ihnen zwei schwarze Kühe zugesellt und es war eine seltene animalische Eintracht zwischen ihnen, von der brennenden Sonne aufgezwungen.
Aus dem Laden tönte eine schrille Frauenstimme: „Und das Eine will ich Ihnen sagen, Frau Herbst, mit der Vroni nimmt es noch 'mal ein schreckliches Ende. Diese Prügelei am Samstag beim Tanz soll sie ja auch angestiftet haben. So etwas hat es hier noch nie gegeben, dass Eine allen Jungen schöne Augen macht. Mein Vater hätte mich balbtot geprügelt.“
Ob das der Grund dafür war, dass diese keifende Alte in ihrer Jugend stets die Augen niederschlug, wenn ein Junge in ihre Nähe kam? Oder hatte sie den Jungen schöne Augen gemacht und jene hatten darin keinen Anlass gesehen, sich zu prügeln. Und nun war ein Mädchen herangewachsen, das schließlich die Aufmerksamkeit des ganzen Dorfes erregte. Und der Neid kannte keine Grenzen; eine alte Geschichte.

Hinein in den Laden und ‚Eine wie die andere rund und bunt’, war mein erster Gedanke. Nur die Verkäuferin: lang, dünn, magere Wangen und ein blauer Kittel.
„Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht“, sagte die Verkäuferin, wohl um die schrille Dicke zur Preisgabe von Einzelheiten zu bewegen. Drei Dicke und die Verkäuferin und plötzlich kein Wort mehr. Nur das Schilpen von Spatzen war zu hören, die auf dem Brotregal hockten, als ob sie die Unterhaltung der Frauen fortsetzen wollten.
„Und die Eier, die ich gestern kaufte, waren ja sehr frisch. Und das Eigelb war so gelb“, sagte eine der Frauen. Welch ein geheimnisvolles Geheimnis sie doch zu bewahren glaubten, als gäbe es kein offeneres als Dorftrinentratsch.
„Ja, und das Eiweiß war so weiß“, konnte ich mich nicht mehr bezähmen. So viel hochnäsige Verachtung, so viel Beleidigtsein und oh, erste Rache-Fünkchen blitzten mir aus acht Augen entgegen.
„Sie können Ihre Wünsche äußern, wenn Sie an der Reihe sind.“ Den dicken Frauen zugewandt, sagte die Verkäuferin: „So jung und so frech. Je weiter ihr Weg hierher ist, desto mehr glauben sie, sich gegenüber der heimischen Bevölkerung herausnehmen zu können.“
Siehe, man kannte mich nach wenigen Tagen.
Wann kennt ein Mensch einen anderen? Vermeint ihr nicht, einen Menschen so ganz und gar genau zu kennen und kommt dann nicht der Tag, an dem es euch ebenso ungewollt über die Zunge kommt: ‚Nein, das hätte ich nie gedacht, dass er so etwas macht.’ Nie werden wir einen Menschen bis zum Grunde kennen, kennen wir uns doch selbst bisweilen nicht wieder.
Genau wie ich mich nicht wiedererkannte. Was hatte ich mich in das Gespräch der Dorfposaunen einzumischen, dazu noch so herausfordernd? Also Wiedergutmachung: „Selbstverständlich, meine liebe Frau Herbst, kein Wort von mir, bis ich an der Reihe bin.“
Zu dick aufgetragen, denn: „Ich bin hier die Verkäuferin und nicht Ihre liebe Frau Herbst, merken Sie sich das. Und noch etwas, es gibt noch andere Läden, wo Sie einkaufen können.“
Nein, kein Wort mehr, bis die drei Dicken eingekauft haben. Aber sie haben schon und die spatzen-durchschilpte Stille wurde nun auf beiden Seiten peinlich.
„Also, was wünschen Sie?“ Und die Waren landeten auf dem Tisch, als seien sie Bleiklumpen. Anders hätte ich es auch gar nicht erwartet. Vielleicht doch noch etwas zur Auflockerung der Gewitterwolken: „Nein, was Sie aber auch alles für Waren in Ihrem Geschäft vorrätig haben“, Geschäft, wie viel nobler klingt das doch als Laden, „eine richtige Augenweide!“
Richtig, der erste Sonnenstrahl blitzte von Frau Herbst herüber. Die drei Dicken schienen sich schon ausgeschlossen zu fühlen: „Hier gibt es alles das, was wir gern kaufen.“ Die Betonung des ‚wir’ war nicht zu überhören. ‚Hast du die Verkäuferin, hast du die anderen’, und so säuselte ich weiter: „Also nein, Sie haben ja sogar den berühmten Deoroller Deo-Ex im Regal zu stehen. Wie viel Stück haben Sie denn? 18? Nun, ich nehme neun. Bitte, schauen Sie nicht so. Ich bin ganz bestimmt nicht so frech und verrückt, wie Sie von mir denken. Ich glaube fast, Sie wissen nichts von der sagenhaften Beiwirkung von Deo-Ex?! Ganz im Vertrauen, aber bitte, sagen Sie es nicht weiter, aber warum bitte ich Sie zu schweigen; das können Sie - da bin ich ganz sicher - viel, viel besser als das pompöseste Grab. Ja, also, wissen Sie, mir ist es ja so entsetzlich peinlich vor Frauen, aber nun habe ich Sie neugierig gemacht und bitte Sie um Nachsicht, denn es ist eine intime, eine sehr intime Angelegenheit. Ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen. Und Sie wissen wirklich nichts von irgendeiner Beiwirkung?“
Nichts, nur große Frageaugen.
„Also, es ist nichts Besonderes: Dieses Deo-Ex ist einfach nur schamhaar-entfernend. Sie brauchen sich nie mehr zu rasieren.“
Es gibt nun einmal Menschen, die ich nicht ernst nehmen kann, die für mich eine Herausforderung sind, denen gegenüber ich frech, hochnäsig und schockierend auftrete. Oh, ja, schockiert waren Sie. Eiskalte Blicke, nahe dem absoluten Nullpunkt, kreuzten sich in der sommerheißen Luft, trafen mich aber nicht, weil sie sich auf das Regal mit den ominösen Deorollern zubewegten. Doch dann: "Jetzt aber 'raus, Sie schweinischer Kerl! Dass man sich so'was bieten lassen muss! Vergessen Sie nicht zu bezahlen. Umsonst gibt es hier nichts!"
Seht ihr, Freunde, nur Frau Herbst gab ihrer Entrüstung beredten Ausdruck, behielt aber den Blick für das Geschäft trotz der vielen Minusgrade. Das konnte doch nicht wahr sein: Die drei Dicken waren ganz rotgesichtig geworden und die eisige Kälte war schon von dümmlicher Neugier. Statt das Haupt dieser Tratschen zu gewinnen, hatte ich es mir mit ihm reichlich verdorben. Aber falls ich mich nicht täuschte, würden bald Deoroller verkauft werden.
Die Menschen sind, wie sie sind, wie sie gemacht wurden und wie sie sich selber machten. Glaubt mir, auch mir ist es nicht gegeben, Menschen zu ändern und könnte ich es, ich hätte Angst davor. Aber mir ist es auch nicht gegeben, geballter menschlicher Dummheit verständnisvoll zuzuschauen. Vielleicht bin ich gar nicht so verständnisvoll, wie ich es von mir denke. Das mag es gewesen sein, weshalb ich mich einige Tage später aufmachte, Wirkungen meines ersten Besuches im Laden nachzuspüren und wenn es Not tat, noch eins draufzusetzen.
Der Alte hatte geschmunzelt, als ich ihm von meinem Einkauf erzählte und mich dann gewarnt: „Es sind dumme Frauen, die aus Mangel an eigenem Leben in fremden Leben herumtreten und die sich anmaßen, diese fremden Leben mit ihrer Spießermoral zu wägen und stets für zu leicht befinden. Sie geben ihre Meinung unumwunden zum besten und das, was so unglaublich ist, passiert immer wieder: Sie finden Gehör und viele Leute meinen, das ist es, was ich auch über diese Menschen dachte; und glaube mir, die meisten dieser Leute hatten bisher über all die Beklatschten keinen Gedanken verloren. Ja, sie sind dumm, zu dumm, zu erkennen, wie armselig ihr Leben ist, aber sie sind eine Gefahr und ein gut Teil Unglück in der Welt ist ihnen zu verdanken.“
Hatte er recht? Natürlich hatte er recht! Aber der volle Magen am Abend nützt nichts gegen den Hunger am nächsten Morgen, und das soll heißen, eingekauft werden mußte wieder. Also, laßt uns gehen! Wir wollen endlich sehen, wie es den Deoarollern ergangen ist.
Es mußte die gleiche Zeit sein, wie bei meinem ersten Einkauf, denn die zwei Hunde lagen wieder im Schatten der Treppe und den Hunden hatten sich die zwei schwarzen Kühe hinzugesellt, nachdem ihr Stammplatz im Buswartehäuschen von der Sonne okkupiert worden war.
Ein „Guten Tag“ schallte mir entgegen. Frau Herbst sagte es und es klang sehr neutral, nicht freundlich, auch nicht abweisend oder angriffslustig. Ich wurde also zum Einkauf zugelassen. ‚Wo stehen die Deoroller? Verschwunden sind sie!’ Nur eine der Dicken war im Laden und siehe, ein leichtes Rosa geriet auf ihre Wangen. Das hätte ich ihr gar nicht zugetraut.
„Frau Herbst“, gleich eine winzige Provokation; wie weit darf ich gehen, bis sie sich herausgefordert fühlt, „ich brauche wieder das Übliche. Sie wissen schon.“
Nein, kein Einsprach. Die gefüllten Tüten gelangten auf den Verkaufstisch, ohne dass ich befürchten muss, sie zerplatzten. „Frau Herbst, sagen Sie bitte, die Deoroller sind wohl ausverkauft?"
„Ich weiß auch nicht, was plötzlich in die Leute gefahren ist. Die Roller standen immer herum, niemanden interessierten sie. Nein, diese neumodischen Dinge! Nun wollen plötzlich alle gleich riechen. Ich habe schon nachbestellen müssen.“
„Nicht, dass vielleicht die Beiwirkung Wirkung zeigte?"
„Jetzt fangen Sie schon wieder an damit! Sie sind ein unmöglicher Kerl. Sie werden es sich doch noch mit mir verderben.“
Aber der Dicken war auf meine Frage ein unwillkürliches, leises, rosarotes Kopfnicken entfahren, und ich brauchte nicht weiter zu fragen.
Ich packte meine Einkäufe ein und wandte mich mit einem ''Nichts für ungut, Frau Herbst" zum Gehen.
„Nichts für ungut“, hörte ich die Verkäuferin hinter mir. Das war mehr als eine Überraschung für mich. Ihr wäret sicher auch überrascht gewesen, denn klang das nicht wie eine Entschuldigung? Und das, wo ich sie doch hinters Licht geführt hatte. Ihr Verkaufstrieb hatte über meine Frechheit gesiegt.
‚Nun, wollen wir es dabei belassen’, sagte ich mir ‚und keins mehr draufsetzen.’ Heute hatte sie es wirklich nicht verdient. Da kenne sich noch einer aus mit den Menschen und mit sich selbst! Aber können wir einen Menschen soweit kennen, dass es an ihm nichts mehr zu entdecken gibt? Hängt das nicht von zweierlei ab? Zum einen davon, dass der zu Entdeckende viele Ecken und Winkel hat, gefüllt mit geheimen Botschaften seines Lebens, aufzufinden durch ein Labyrinth von Gängen, die es auch erst zu entdecken gilt. Und je nach der Aufeinanderfolge der Entdeckungen bauen wir uns ein Bild dieses Menschen und es ist immer wieder ein neues Bild, wenn wir uns einen neuen Eingang in das Labyrinth verschaffen, weil Reihenfolge und Blickwinkel verändert sind. Zum anderen hängt die Dauer des Entdeckens vom Entdecker ab. Vor allem darf der Suchende nie glauben, alles entdeckt zu haben und er muß immer wieder einen anderen Eingang erspüren zu den Schätzen des Lebens. Und es muß ihm Spaß machen, unbändige Freude!
Ach, ich höre euch, wie ihr sagt: Ja, Herr Lehrer. Glaubt mir, nichts liegt mir daran, euch zu belehren. Es waren die Gedanken des Alten und meine, und ich weiß heute nicht mehr, wer was sagte. Ich schreibe es auf, damit ich meine eigenen Worte beherzige und damit andere, die so bisher nicht dachten, sich ein verändertes Bild vom Kennenlernen zusammendenken können. Zu schnell haben wir ein Urteil über einen Menschen bei der Hand.

Keine Kommentare:

 
blogoscoop