Sonntag, 4. Januar 2009

Tod im Dunkel

Am 21. Dezember lasen Sie, dass ich Uwe Holl im Gefängnis besuchte. Er erzählte mir vom Mauerreiter. Vielleicht haben Sie es geahnt; es war nur zum Anwärmen. An der Grenze ging es nicht lustig zu. Uwe Holl erzählte mir auch diese Geschichte:

Tod im Dunkel

Versuchte Grenzdurchbrüche und solche die gelungen waren, wurden in den Grenzkompanien ausgewertet. Zusätzlich erfuhren wir manches, wenn wir im Ausgang Grenzer anderer Regimenter trafen.

Einer der begehrten Posten lag in einem Güterbahnhofgelände. Begehrt war der Postenturm, weil wir von dort aus ein modernes Wohnhaus mit zimmergroßen Fenstern beobachten konnten. Die Ferngläser waren ganz gut. Bekannt war eine Wohnung, in der nachts gegen drei Uhr eine Frau in ihr Wohnzimmer trat und sich dort auszog.
Das Irrsinnige war, dass sie sich dazu auf ein Sofa setzte, dessen Lehne zum Fenster gerichtet war. Das heißt, dass Licht ging an, wenn sie schon saß. Wir konnten also nur ihre Arme und Beine sehen und waren überzeugt, dass sie genau wusste, dass sie beobachtet wurde. Immerhin zog sie sich so elegant aus, dass wir alle annahmen, es müsse eine Tänzerin sein. Das Licht ging aus und niemand hat sie je aus dem Zimmer gehen sehen.

In einer Sommernacht wurde das Postenpaar an den Gleisanlagen aufgeschreckt, weil der Signalzaun auslöste. Eine Kontrolllampe leuchtete also auf dem Postenturm. Einer versuchte zu sehen, was dort der Auslöser war. Oft huschten Kaninchen durch den Zaun und drückten dabei die dünnen Drähte aneinander, was die Kontrolleuchte auslöste. Der Postenführer meldete, dass irgendetwas den Signalzaun ausgelöst hatte. Der Zugführer versprach, die Streife zu schicken.
Der Postenführer schoß mit der Leuchtpistole, um Sicht zu bekommen, denn zwischen den Gleisen war es stockdunkel. Nur der Streifen vor der Mauer nach Westberlin war beleuchtet - noch.

Im Licht der Leuchtkugel sah der Postenführer einen Mann Richtung Grenze rennen. Doch ehe der Posten schießen konnte, war die Leuchtkugel erloschen. Leuchtkugel nachladen, wieder schießen. Der Mann war weg. Im letzten Schimmer erkannten die Grenzer jedoch einen zweiten Mann, der über die Gleise gen Westen stolperte. Der Posten schoß einen Warnschuss ins Dunkel.

Die Streife kam und kam nicht. Deshalb entschied der Postenführer, den Turm zu verlassen und die beiden Grenzedes zu suchen. Er rechnete damit, die beiden im Gegenlicht der Mauerbeleuchtung als Schattenrisse zu erkennen. Doch die beiden Männer hatten sich hingelegt und warteten ab. Jetzt ertönten Schüsse von der westlichen Seite. Das war doch nicht möglich! War die Streife ihnen ins Gehege gekommen? müssen sie gedacht haben. Wie sollten die Grenzer in dem düsteren Kuddelmuddel die Streife von den Grenzedes unterscheiden?
Der Gedanke war vorerst überflüssig, denn die Schüsse kamen aus Westberlin, aus den Waffen von Polizisten. Sie schossen auf die Lampen der Lichtertrasse am Kontrollstreifen. Und sie trafen. Eine Lampe nach der anderen erlosch. Es wurde immer dunkler.

Nun muss den Posten Panik befallen haben. Er stürmte auf den Gleisen umher, hörte nicht mehr auf die Rufe seines Postenführers, muss dann fast auf einen der beiden Grenzedes getreten sein, der auswich und aufsprang. Beide standen sich drei oder vier Meter entfernt gegenüber. Der Grenzer schoss, noch ehe sich der Mann zur Grenze wenden konnte. Er schoss nicht einmal, sondern feuerte eine Dutzend Schüsse ab, die dem Mann den Brustkorb zerrissen.
Er schoss, weil er Todesangst hatte, obwohl oder weil er nicht erkennen konnte, ob der Mann bewaffnet war. Er soll eine zusammengerollte Strickleiter unter dem Arm getragen habe, mit Haken daran. Er wäre damit niemals über die Mauer gekommen. Vielleicht hat der Posten die Rolle unter dem Arm als Waffe gedeutet. Der zweite Grenzede wurde von der Streife gefasst, die gerade eingetroffen war.

Was für ein Dreck! Ein junger Mann tot, der nicht einmal die Chance hatte, über die Mauer zu klettern und dazu das Leben des Grenzers versaut, der sich bis zu seinem Tod nicht verzeihen wird, einen Mann erschossen zu haben. Was die Westberliner Polizisten angeht, hatten sie indirekt Anteil am Tod des Mannes. Wahrscheinlich wäre die Festnahme bei funktionierender Lichtertrasse ohne einen scharfen Schuss abgegangen, wenn die Lampen nicht zerschossen worden wären.

Wozu das alles? Es war völlig irrsinnig. Ich muss gerade an Peter denken, den Bäckergesellen, von dessen Tod während einer Schießübung.
(Sie wissen nicht, wer Peter ist? Lesen Sie im "Sturmfeld " die Geschichte vom Bäckergesellen mit der rachitischen Brust nach.)
Heute glaube ich, dass es ein Schicksal geben kann, oder eine Fügung. Es ist, als hätte der zukünftige Grenzer Peter dafür sterben müssen, dass ein anderer Grenzer Monate später einen Grenzede erschießen wird. Beide starben nachts, beide mit zerrissener Brust.

Nur wenige Bekannte konnten verstehen, dass ich nie wieder an die Grenze wollte, dass ich alles Militärische bis heute und für immer hasse. Ich war Familienvater, als ich als Reservist noch einmal an die Grenze sollte.
"Da gehe ich nicht wieder hin", antwortete ich damals. Die Leute vom Wehrkreiskommando schauten sich und dann mich verdattert an.
Ich erklärte ihnen, dass ich eine Familie habe.
"Ja und?", fragte mich einer der Offiziere.
"Entweder wissen Sie nicht, was an der Grenze los ist, oder es ist Ihnen egal. Ich gehe jedenfalls nicht mehr hin. Wenn Sie Kanonenfutter brauchen, schicken Sie die 18-Jährigen hin, die weder Frau noch Kinder haben und die nicht wissen, was ihnen an der Grenze passieren kann. Ich möchte weder jemandes Leben auf dem Gewissen haben noch mich abknallen lassen."
"Das ist eine Ausrede, wird Ihnen nicht helfen."
"Nein? Wann soll ich denn dort hin?"
"Im Frühjahr."
"Dann kann ich sowieso nicht. Ich bekomme eine größere Wohnung. Oder können Sie mir garantieren, dass ich zum Umzug Urlaub erhalte?"
"Nein."
"Sehen Sie, dann wird nichts draus."
"Bringen Sie uns eine Bestätigung über den Umzugstermin."
"Mach ich."

Dem Vermieter trug ich mein Anliegen vor. Offensichtlich wollten auch die Leute, dass ich zum Reservedienst eingezogen werde. Ich bekam keine Bestätigung, sondern sie boten mir eine Wohnung an, in die ich sofort ziehen konnte.
So bekam ich früher eine Wohnung, die sogar ein Zimmer größer war als die beantragte, und an die Grenze musste ich nie wieder.

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