Montag, 19. Januar 2009

Beinahe Maueropfer

Uwe Holl sagte mir, es habe ihn von Anfang an gewundert, dass immer von Maueropfern geredet wurde und jene gemeint waren, die in den Westen abhauen wollten und genau wussten, dass nicht mit Schneebällen nach ihnen geworfen werden würde, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen.

Uwe Holl verblüffte mich mit dem Satz: "Beinahe wäre ich auch ein Maueropfer geworden."
"Was? Haben Sie nach der Zeit als Grenzer Ihr Wissen nutzen wollen?"
"Witzig! Wer aus dem Hinterland kam, um über die Mauer zu klettern, wurde fast immer geschnappt.
"Sie meinen, tot oder lebendig."
"Ja, ist doch klar. Ich hätte nach meiner Grenzerzeit niemals versucht, über die Berliner Mauer abzuhauen, gerade weil ich an der Grenze war und das Risiko bestens kannte. Nee, bin doch nicht lebensmüde. Abhauen war nur während des Grenzdienstes möglich und das an wenigen Stellen und bloß, wenn der zweite Man mitmachte."
Er holte tief Luft, schaute mich an und sagte: "Oder wer abhauen wollte, musste den zweiten Mann umbringen. Hätte ich niemals gemacht, kam aber vor, selten, Kameraden von hinten abgeknallt, habe ich ja schon in Koserow erzählt. Deshalb war das Streifelaufen als Posten vor dem Postenführer jedes Mal eine furchtbare, stundenlange Anspannung."

"Und so wären Sie beinahe Maueropfer geworden?"
"Neinnein, das war anders."

Hier die Geschichte:

Beinahe Maueropfer

Es war in einem langen, ziemlich geraden Abschnitt in Berlin-Mitte. Dort wurde tagsüber der Grenzzaun abgebaut und die Mauer aufgestellt. Die Mauer wurde nämlich bis auf winzige Bereiche nicht 1961 gebaut, sondern bis in die 70-er Jahre hinein. Das längste Stück war jahrelang ein Stacheldrahtzaun oder Sreckmetallzaun geblieben.

Wenn die Pioniere ihren Dienst erledigt hatten, blieb immer ein Übergang zwischen eingerolltem Zaun und der Mauer. Ein ganz Verwegener hatte das wohl gesehen und meinte, zwischen Mauer und Zaun bestünde eine Lücke, durch die er sich nach Westberlin zwängen könnte - ein Irrtum. Da passte kein Hänfling durch.

Es war lange nach Mitternacht, als rechts von meinem Postenturm Schüsse krachten. Mein Posten und ich sahen das Mündungsfeuer vom Nachbarturm, und auch am Klang erkannten wir, dass mit einer Kalaschnikow geschossen wurde. Es folgte das Leuchtsignal für Grenzdurchbruch Ost-West. Das war die endgültige Gewissheit darüber, was unsere Nachbarn gerade durchmachten. Aber wir konnten niemanden erkennen, der sich in den Westen aufmachen wollte.

Nur alle 20 bis 30 Sekunden krachte ein kurzer Feuerstoß, drei, vier Schuss. Was sich wie ein Echo anhörte, war keins. Es waren einzelne Einschläge in unserem Postenturm. Wir wurden von unseren Nachbarn beschossen. Grenzede musste genau zwischen unserem und dem Nachbarturm im Halbdunkel liegen. Wenn unser Nachbar schoss, tat die Kalaschnikow, was sie immer tat, sie zog hoch. Das heißt, wurde die Waffe nicht richtig festgehalten, flog jedes Geschoß über dem vorigen durch die Gegend.

Ich brüllte meinen Posten und mich an: "Kopf runter, Helm auf." Schon waren wir auf den Knien, Helm auf, Riemen festziehen. Und was nun? Was, wenn in unserem Postenbereich ein Kumpel von Grenzede in Richtung Zaun rannte? Solange wir im Turm knieten, konnten wir natürlich nichts beobachten. Ich meldete, dass wir beschossen wurden.
Die Antwort: "Wir sagen Bescheid. Trotzdem beobachten."
"Ja, schönen Dank", schrie ich den Zugführer durch das Grenzmeldennetz an.
Meinem Posten befahl ich, in Deckung zu bleiben.
Ich stieg hinunter, stieß die Blechtür auf, die Richtung Hinterland aufging und sprang nach dem nächsten Feuerstoß um den Turm herum, dass ich ihn als Deckung zwischen mir und meinen Nachbarn hatte. So konnte ich wenigstens einen Großteil des Geländes überblicken.

Ich habe keine Ahnung, wie lange ich dort stand. Ich merkte jedoch bald, dass die Einschläge sich in Richtung Grenze verlagerten. Später wurde mir klar, dass Grenzede sich Richtung Grenzzaun vorarbeitete. Ich huschte in den Turm, brüllte hoch: "Beobachten, das Schlimmste ist vorbei" und stieg hinauf.

Nun konnte ich mir einen Überblick verschaffen, auch auf den Hochstand in Westberlin. Dort hatten sich US-Soldaten mit gezogenen Pistolen, angelockt durch die Schießerei postiert. Da der Grenzede sich vorgearbeitet hatte, geriet er immer mehr in das Licht der Lampen und auch ich konnte ihn nun erkennen. Er lag zwischen den Panzersperren, diesen zusammengeschweißten Abschnitten von Eisenbahnschienen. Immer, wenn er ein paar Schritte vorpreschte, schoss unser Nachbar über seinen Kopf hinweg. Grenzede ging wieder in Deckung. So ging das nun schon die ganze Zeit. Mitunter hörten wir die Querschläger zwitschern. Wenn Grenzede so weitermachte, konnte er in einer Minute am Zaun sein und die Leute auf dem Nachbarturm hätten ein Problem: Sie hätten durch den Zaun in den Westen schießen müssen, um den jungen Mann zu stoppen.

Endlich kam die Streife angeknattert, gleich danach der Zugführer. Er postierte sich genau gegenüber vom Hochstand, die Kalaschnikow vor der Brust. Drüben die Amis, die Pistolen bereit, hier der Zugführer. Zwischen dieser Grupe und dem Mann in der Panzersperre waren etwa 50 Meter Abstand. Ich konnte nicht verstehen, was er den Amis zuschrie. Als sie keine Anstalten machte, die Pistolen einzustecken, entsicherte er die Kalaschnikow und lud sie durch. Eine Patrone war im Lauf; er brauchte nur noch abzudrücken. Der Zugführer schrie zwar die US-Soldaten an, blieb aber gelassen. Es war nicht seine erste Begegnung dieser Art, aber meine.

Zur gleichen Zeit holte die Streife den jungen Mann aus der Panzersperre. Er hatte nichts bei sich, hatte geglaubt, sich zwischen Zaun und Mauer durchzwängen zu können, was völliger Quatsch war. Es hatte nicht einmal einen Streifschuss abbekommen und war nur deshalb so lange in der Panzersperre geblieben, weil er nirgends eine Lücke zum Durchschlüpfen finden konnte.
Mein Posten und ich hatten außer dem Schreck auch nichts abbekommen. Doch seit der Nacht fühlten wir uns als Beinahe-Maueropfer.

Die Amerikaner zogen unter Gezeter ab, als sie sahen, dass sie nichts ausrichten konnten.
Unsere Nachbarposten erhielten Sonderurlaub und maulten ein wenig, als ich ihnen am Tag darauf sagte, dass sie uns beschossen hätten, als ob wir abhauen wollten.

Warum ich das erzähle? Maueropfer waren nicht nur jene, die beim Versuch, die Grenzer auszutricksen an die Falschen gerieten.

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