Donnerstag, 23. Oktober 2008

Die Aufzeichnungen des Uwe Holl, alias Martin W. (1)

Wie versprochen, hier die Aufzeichnungen (Teil 1) des Uwe Holl , der sich in seinem Text Martin W. nennt.

GRENZGEBIET

Die Aufzeichnungen des Martin W.


I. Ich befahre einen zweinamigen Fluss, erwache als Angler und höre eine Geschichte

II. Ich ermutige Dorffrauen und ernte dafür eine kleine Feindschaft, die sich in Sympathie verwandelt

III. Abendwind I und II

IV. Ich erlebe unfeierliche Feierlichkeiten

V. Abendwind III

VI. Ich besteige einen Berg und stelle Fragen


I.

Es gibt einen Fluss, an dessen Oberlauf zwei Länder aneinander grenzen. Im Nordland heißt der Fluss Bleibdaheim, im Südland dagegen Immeranders. Mag sein, dass das Südreich ein Land voller Philosophen war, denen es der Satz: ‚Alles fließt.’ angetan hatte; mag sein, dass in den Menschen des Nordlandes von alters her die Angst vor Stromschnellen und Strudellöchern geschürt wurde. Mag auch sein, dass im Nordland Menschen am Wirken waren, die ihre Mitmenschen für etwas Besonderes aufbewahrten und deshalb niemanden abhanden kommen lassen wollten. Vielleicht hieß der Fluss im Norden auch Pleudoham und im Süden Imiranda. Niemand konnte sich unter diesen Wörtern etwas vorstellen und so wurden die Namen des Flusses veredelt.

Als ich im Sommer diesen Fluss heruntergefahren kam, machte ich am Südufer Rast. Unter dicken Korbweiden legte ich mich zum Schlafen nieder. Wieder erwacht, sah ich zu meiner Rechten einen Alten sitzen: „Wird wohl schon kühl, Fremder? Ich bin beim Feuer machen, gleich ist dir wärmer. Setz dich her.“

„Du kennst dich gut aus. Hast auch gleich erkannt, dass ich kein Hiesiger bin.“

„Ich bin oft hier und so kenne ich alle, die hier in der Nähe leben.“

„Auch die Leute vom anderen Ufer?“

„Na, breit ist der Fluss nicht, sehen kann ich auch; wie sollte ich die Leute aus dem Nordland nicht kennen. Und außerdem war ich oft genug am Nordufer. Also...“

„Ich erhielt keine Erlaubnis, am Nordufer anzulegen. Durfte man früher einfach hinüber?“

„Es muss schon lange so sein, dass die Nordischen nichts von uns wissen dürfen. Niemand darf hinüber.“

„Aber du warst dort, oft, wie du sagtest. Und du bist nie ertappt worden?“

„Wer glaubt, etwas Unrechtes zu tun, wird mit Sicherheit dafür büßen, selbst wenn es nach den Gesetzen rechtens ist, was er tat.“

Der Alte zündete einen Holzstoß an und sagte: „Dein Boot liegt sehr tief. So kommst du nur langsam voran.“

„Mir liegt daran, langsam voranzukommen.“

„Du suchst Urlauberruhe?“

Ich wies auf das Boot: „Weißt du, das Boot hat keinen Motor; ich lasse mich zur Mündung

treiben.“

„Oho, ein weiter Weg. Es könnte sein, dass dir die Zeit lang wird.“

Die Sonne war untergegangen. Im Schein des Feuers sah ich seine starken, buschigen Augenbrauen, seine kräftige Nase und dunkel glühende Augen. Seine Hände dagegen waren feingliedrig. So redefreudig er nach den ersten Worten schien, so still war er nun.

Ich hatte Zeit damals, viel gestohlene Zeit, weil ich sie nur für mich wollte, weil ich mich mit dieser Zeit aufgemacht hatte, allein zu sein, um neue Menschen zu suchen. In Unfrieden mit Bekannten und Verwandten hatte ich mich davongestohlen, hatte ich nicht den Mut gehabt, zu sagen: Ich verschwinde von hier, weil wir uns gegenseitig langweilen und ich hungrig auf andere Menschen geworden bin.

„Ich habe Hunger wie ein Wolf. Du könntest mir sagen, wo ich eine Kneipe finde.“

Der Alte antwortete: „Du kannst mit zu mir kommen. Es ist nicht weit. Wenn es dir bei mir nicht gefällt, kannst du immer noch eine Kneipe suchen.“

Als wir das niedrige Häuschen betreten hatten, sagte ich: „Das Haus ist nicht sehr groß, aber es lässt sich hier sicher gut wohnen.“

„Die Hütte ist für mich allein viel zu groß. Ich bin einmal hier eingezogen, weil sie eine schöne Lage zum Fluss hat.“

Der Fluss, an dem er sich tagsüber aufhält und in dessen Nähe er auch nachts bleibt.

„Es gefällt mir. Hier könnte ich länger bleiben.“

„Du kannst bleiben, solange du willst“, sagte der Alte, während er sich eine Pfeife anbrannte. Und dann: „Wenn du kein Urlauber bist, was bist du dann?“

„Ich bin weggelaufen.“

„Du hast also die Flucht ergriffen. Dort, wo du zu Hause bist, weiß niemand wo du bist. Hier weiß niemand, wer du bist. Du bist allein?“

„Und du? Mir scheint, du lebst auch allein.“

„Ja, sicher. Die Zeit, als ich nach Gesellschaft gierte, als ich glaubte, ohne Menschen um mich zu haben, wäre das Leben Unsinn, als ich meinte, Aufmerksamkeit erregen zu müssen, die Zeit ist vorüber. Wenn jemand glaubt, mich aufsuchen zu müssen, soll er kommen. Alle Menschen sind mir interessant genug, dass ich mit ihnen spreche und mir ihre Geschichten anhöre. Aber ich laufe niemandem hinterher.“

„Können sich Menschen nicht auch entgegenkommen?“

„Wo sollen sie sich treffen, auf halbem Wege? Woran merkst du, dass Menschen, denen du entgegengehen möchtest, dir entgegen kommen?“

„Du sagtest, es besuchen dich Menschen, die dir Geschichten erzählen. Kommen sie dir nicht entgegen?“

„Meist treibt sie die Neugier her.“

„Mich hast du an dein Feuer und in dein Haus gebeten.“

„Ich sagte schon, du kannst gehen, wann du willst.“

„Mich interessiert, warum du an diesem Fluss lebst. Ein Grenzfluss und besonders dieser hat immer etwas schamlos Trennendes, und ein viele Kilometer breiter Streifen zu beiden Seiten ist fast tristes Niemandsland. Die Menschen, die hier leben, scheinen wenig Interesse am Leben und Treiben in der ganzen übrigen Welt zu haben. Beinahe hätte ich gesagt, sie leben ohne Interesse an den Menschen, die nur wenige Meter jenseits des Flusses leben. Aber ich irre mich wohl. Dieses Interesse muss stückweise amputiert worden sein. Menschen zu hassen, ist vielleicht menschlicher, als sie nicht zur Kenntnis zu nehmen. Aber noch unmenschlicher ist es, sie nicht zur Kenntnis nehmen zu können. Was ich bisher von dir erfahren habe, lässt mich glauben, dass es auf der anderen Seite Menschen gibt, mit denen dich soviel verbindet, dass du hier geblieben bist, um in der Nähe zu sein, wenn die Möglichkeit da ist, hinüberzugelangen.“

„Du gehörst wohl zu jenen, die schnell mit einem Urteil bei der Hand sind? Das ist nicht gut. Aber ich glaube eher, du gehörst zu den Neugierigen. Du sagtest, du hättest keine Eile. Dann kannst du dich sicher noch etwas gedulden.“

„Tut mir Leid.“

„Dort hinten, das ist nun dein Bett.“

Wovon war ich erwacht? Waren es die Steine im Fluss mit ihrem Gegrummel? War es die Sonne? Das Vogelorchester? Es war wohl der Hunger, der durch den Duft von heißem Bratenfett sich in mir meldete.

„Auf, auf, heute ist Angelwetter. Du bist doch Angler?“

„Ja, das bin ich. Was brutzelt denn da?“

„Es wird dir schmecken.“

Überlegt einmal, Freunde: Ihr seid an den heimischen Herd, an die heimische Kost gewöhnt. Ihr geratet durch Umstände in eine fremde Umgebung, werdet von einem alten Mann aufgelesen, und nach der ersten Nacht plagt euch der Hunger. Ihr bekommt Spiegeleier vorgesetzt, in denen der Speck glänzt, und aus einem großen Glas dampft euch Teeduft entgegen. Würdet ihr so gierig über das Essen herfallen, wie ich es tat? Ohne Hemmungen verschlang ich meine Portion, die neue Umgebung beeindruckte mich nicht: Offensichtlich fühlte ich mich wohl - nein, nicht wie zu Hause dort hatte ich mich schon lange nicht mehr wohl gefühlt - und die Aufforderung zum Angeln hatte ein gut Teil dazu beigetragen.

Nach dem Frühstück zogen wir an den Fluss, an eine Stelle, wo Weiden Schattenkühle verbreiten würden, wenn die Sonne stieg, und wo der Fluss eine kleine Insel aus seinem Lauf hervorgebracht hatte. Aus dem Rucksack kamen seltsame Gerätschaften zum Vorschein. Angelruten fehlten.

„Angelst du ohne Rute?“, wollte ich wissen.

„Ohne Rute, wir brauchen keine. Du siehst, hier in der Bucht fließt das Wasser ganz ruhig. Tief ist es auch nicht. Nimm diese Gummischnur, wate durchs Wasser zur Insel, binde die Schnur an einen Stein, komm zurück und du wirst sehen, wie schnell wir unsere Fische fangen.“

Von der Insel zurück, sah ich, dass der Alte die Haken beködert hatte, die an einer Hauptschnur hingen. Sie war an der Gummischnur befestigt und durch deren Elastizität konnten die Haken in jeder beliebigen Entfernung den Fischen vorgeführt werden. Sehr einfach war das alles und bald stellte ich fest, sehr erfolgreich war es auch.

Während wir von Zeit zu Zeit einen Fisch landeten, erzählte ich Paul - so hieß der Alte - von mir und von den Gründen meiner Flucht. Als ich geendet hatte, sagte er: „So ist das also mit dir. Weggelaufen bist du aus Neugier auf andere Menschen. Was hast du eigentlich getan gegen die Langeweile? Ich glaube, du vermochtest nicht, dir Räume zu gewinnen für dich allein, hast gedacht, ohne andere Menschen, die ständig um dich sein müssen, ist das Leben nichts wert. Das ist ein großer Irrtum. Jeder Mensch muss Zeit für sich allein haben, Zeit, in der er nur seiner Wege geht. Denke mal darüber nach.“

„Kann schon sein, dass ich mich zu sehr an Menschen gekettet habe, die sich wiederum an mich ketteten. Erzählst du mir von dir? Mich interessiert sehr, warum du hier lebst. Wie ist das mit dem Fluss?“

„Also gut. Vertrauen gegen Vertrauen! Mich hält ein Liebesmagnet hier fest, und meine Liebe gehört auf die andere Seite des Flusses. Mit so vielen Sehnsuchtspolstern ausgestattet, dass sie als Liebesnahrung bis über meinen Tod reichen, werde ich diese Liebe nie loswerden. Ich bleibe hier, oder ich gehe hinüber. Etwas anderes geht nicht.“

Ich hatte ihn gelockt, indem ich sprach und war nun erschrocken, dass er einem Fremden anvertraute, was ihn an diesem Fluss hielt.

Dies ist die Geschichte des Alten: Früher machten sich die jungen Leute aus dem Südland einen Spaß daraus, heimlich den Grenzfluss zu durchwaten und sich im Nordland umzusehen. Besonders die jungen Männer - unter ihnen Paul - verbrachten manches Wochenende im Nordland. Ihnen hatten es die Mädchen angetan, die besonders hübsch sein sollten und als unnahbar galten. Welch eine Aufgabe, welch ein Abenteuer!

Alljährlich zur Sonnenwende wurde im Nordland eine Schönheitskönigin gewählt und - richtig, Freunde - genau diese und keine andere wollte Paul erobern. Eine Schönheitskönigin ist ein Mädchen, das tagelang nach seiner Wahl so dicht umlagert wird, wie ein weltbekanntes Gemälde in der Urlaubssaison. Während die meisten Leute eine Weile schauten, wie schön denn eine Schönheitskönigin ist und sich bald wieder handgreiflicheren Genüssen hingaben, verbrachte Paul seine Zeit in der Nähe des Mädchens. Früher oder später hätte er ihre Aufmerksamkeit erregen müssen; aber es kam ihm ein wenig der Zufall zur Hilfe. Einige junge Männer waren sich über der Frage ‚ist die Schönheitskönigin wirklich die Schönste weit und breit?’ uneins geworden, woraus sich in wenigen Minuten eine Massenprügelei entwickelte.

Nun war Paul schon immer Prügeleien aus dem Weg gegangen und so auch jetzt. Und bei diesem Aus-Dem-Weg-Gehen nahm er die Schönheitskönigin bei der Hand und führte sie weit, weit abseits. Ohne Schaden dem Getümmel entronnen, atmeten beide auf und die Königin der Schönheit konnte nicht anders und lachte. Dieses Lachen nun war es, das Paul seine - sagen wir - angelsportliche Aufgabe vergessen ließ, weil es eine erste Liebesspur in ihn einrillte. Sie verabredeten sich für das folgende Wochenende, dann für das darauf folgende und so weiter. Es muss eine große Liebe daraus geworden sein.

Aber wie so oft, wenn eine große Liebe herangewachsen ist, bleiben die großen Nöte nicht aus: Ihr wisst doch, die Grenze. Trotz der großen Liebe war es ihnen nicht möglich, zusammenzuleben. Die Politiker des Nordlandes verschlossen sich und ihr Volk der großen Welt, worüber die Politiker des Südlandes so sehr beunruhigt waren, dass sie nicht zuließen, Menschen aus dem Nordland in ihrem Lande leben zu lassen.

An einem Sonnabend war das Mädchen nicht in das Wäldchen vor dem Fluss gekommen und so war es geblieben. Paul fand später heraus, dass es verhaftet worden war ‚wegen unerlaubten Umgangs mit einer unerwünschten Person des Südlandes’, wobei dem Mädchen der Umgang nie erlaubt worden wäre. Von wem auch? Den Ausschlag aber gab das ‚einer nordischen Frau unwürdige sexuelle Verkehren vor der Ehe’. Von den Behörden seines Landes, diese durch die entsprechenden Behörden des Nordlandes dazu aufgefordert, wurde Paul verwarnt: Ihm wurde strenge Bestrafung angedroht für den Fall, er würde von ‚den zuständigen Organen der nordischen Staatsmacht auf deren Territorium aufgegriffen’.

So lebte der Alte nun schon viele Jahre am Fluss, ohne sein Mädchen je wieder gesehen zu haben. In ihm brannte die Sehnsucht weiter, die Hoffnung und leise loderte schon seit einigen Jahren die Angst, sie nie wiederzusehen und die Angst, sie wiederzusehen. Das war die Geschichte des Alten. Und so lustig sie begann, so traurig ist ihr Ende.

Seht ihr, Freunde, ihr ahnt, ein Mensch trägt eine seltsame Geschichte mit sich herum, und wenn ihr sie gehört habt, seid ihr Mitinhaber einer großen Not und beginnt zu überlegen, wie aus dieser Not eine Freude zu machen ist.

Und so kam ich auf den Gedanken, mit dem Alten illegal das Nordland zu bereisen und nach seiner großen Liebe zu suchen. Ich dachte, das sei die einzige Möglichkeit, ihn von seiner großen Not zu befreien. Aber kann man eines anderen Menschen Glück herbeifuhrwerken, wenn man sein eigenes nicht bemeistern kann?

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