Sonntag, 8. Februar 2009

Der uniformierte Grenzgänger

Uwe Holl berichtete mir, wie er zum einzigen Mal in seinem Grenzerleben jemanden festnahm. Es war ein ganz besonderer Gefangener.

Der uniformierte Grenzgänger

Streife laufen war eine beliebte Abwechslung vom Postendasein auf den Türmen - bei gutem Wetter. Das System, wann wer Streife zu laufen hatte, habe ich nie begriffen. Ich hatte höchstens zwei Dutzend Mal Streifendienst. Einige Kameraden waren ständig zum Streifendienst eingeteilt.

Das Erlebnis Friedhofstreife kennen die Sturmfeld-Leser schon: nachts, bei Frost und Schnee und mit dampfender Grube war sie eine Dauerbelastung.

Anstrengend unter höchster Anspannung waren die Nebelstreifen. Ausgerechnet nach dem Nachtdienst wurde ich mehrmals völlig übermüdet in den Nebel geschickt, ich glaube, nach sehr kurzer Ruhepause. Im Nebel in der Mitte eines Grenzabschnittes konnte ich keinen der beiden Postentürme sehen.
Klar, wir waren angemeldet. Aber wussten wir, wie gut oder schlecht die Posten auf den Türmen geschlafen hatten? Ich kannte einige Kameraden, die grundsätzlich zu Dienstbeginn auf dem Turm die Kalaschnikow durchluden und sicherten, um möglichst schnell schießen zu können - entsichern und abdrücken. Wurde der Turm im Nebel erkennbar, hatte ich jedes Mal ein mulmiges Gefühl.
Aber ist ja alles gutgegangen, kam auch niemand aus dem Nebel gen Mauer geflitzt. Nach Nachtschichten brannten mir die Augen bis zum Einschlafen. Nach anschließender Nebelstreife brannten die Augen den ganzen Tag, so stierten wir in den Nebel.

Und dann kam die Streife in einer Straße hinter der Charité. Es war die schmalste Stelle zwischen Bebauung und Mauer. Die Mietskasernen waren leergezogen. Zwischen ihnen und der Mauer waren nur der Gehweg, die Straße und der andere Gehweg. Der war mit Sand bedeckt, um eventuelle Grenzdurchbrüche mit Spuren belegen zu können, falls die Posten geschlafen hatten. Vor der Mauer waren Gitter ausgelegt, die wie umgedrehte Eggen aussahen. Wer dort rauffiel ... Bei dem Gedanken zieht sich heute noch mein Kontraantlitz zusammen.
An einem Ende der Straße stand ein Postenhäuschen aus Holz zu ebener Erde. Der gegenüberliegende Posten war hinter der Häuserfront, weil die Grenze dort einen Bogen machte. Damit war auch klar, wer für welchen Abschnitt zuständig war. Außerdem war ausgeschlossen, dass sich die Posten gegenseitig beschossen, sollte Grenzede kommen. In der Mitte des Straßenabschnittes stand auf westlicher Seite ein Hochstand vor einem Eisstadion. Von dort wurden wir mit Westmusik berieselt, eine höchst willkommene Ablenkung.

Ich wurde mit meinem Posten bekannt gemacht, einem Hundeführer. Doch er machte sich erst einmal mit mir bekannt, indem sein Schäferhund mich wie aus dem Nichts ansprang. Es war ein Scherz des Hundeführers, wie er sagte, "bloß zum Angewöhnen".
Die Köche, die Hundeführer, die wir Dackellenker nannten und die Kanalkontrolle, die das Abwassersystem kontrollierte und die für uns Gullyrutscher waren, dienten in einer gesonderten Kompanie.
Klaus, der Hundeführer, kannte jedes Haus genau. Er hatte sie schon oft durchstöbert. Ich hatte keine Ahnung. Wir durchsuchten durch die leergezogenen Wohnungen, schauten aus den leeren Fensteröffnungen Richtung Charitégelände. Es waren Heime oder Dienstwohnungen, ich weiß es nicht mehr genau, in die wir schauten und deren Bewohner uns unvergessliche Erlebnisse bescherten. Ich weiß, das war gemein. Außerdem hätte Grenzede während dieser Zeit leichtes Spiel gehabt.

Als wir auf die Straße hinaustraten, kamen uns zwei Uniformierte entgegen, Grenzer? Als wir nahe genug waren, rief ich das Pärchen an. Sie sollten die Parole nennen. Für jeden Grenzdienst wurde eine neue Parole erfunden. Wer sich die wohl immer ausdachte?
Unbeirrt kamen die beiden auf uns zu. Ich rief erneut nach der Parole. Nichts, sie gingen einfach auf uns zu, als wären wir Luft.
Noch 15 Meter.
Ich konnte nun die Gesichter gut erkennen, keines war mir bekannt. Das war bedrohlich.
Jetzt hatte ich die Nase voll. Ich riss die Kalaschnikow von der Schulter und rief: "Halt! Stehen bleiben oder ich schieße!"
Ich schaute kurz zum Hochstand, doch der war nicht besetzt; es war also kein abgesprochener Fluchtversuch. Die Uniformierten waren keine zehn Meter mehr entfernt. Ich entsicherte, lud durch und schrie: "Halt!"
Noch zwei Meter!
Da schoss neben mir der Schäferhund los auf den vorderen Uniformträger, knallte die Vorderläufe auf die Schultern des Mannes und ich brüllte: "Hinlegen! Beide Hinlegen!"
Endlich gaben sie nach und legten sich auf das Kopfsteinpflaster.

Der Posten im Holzhäuschen hatte in der Zenrale Bescheid gegeben, dass wir jemanden festnahmen.
Es ging blitzschnell, dass der Trabi heranraste. Da ich den beiden auf dem Boden "Schnauze halten, kein Ton jetzt" empfohlen hatte, erfuhr ich jetzt erst vom Zugführer, dass wir den Kompaniechef der Dackellenker und Gullyrutscher und einen seiner Unteroffiziere festgenommen hatten. Am liebsten hätte ich beiden in den Hintern getreten. So, wie sich gerade erhoben, hätten sie gleich wieder langgelegen.

Klaus und ich wurden später abgeholt. Ich fragte ihn: "Warum hast du denn deinen Hund auf deinen Kompaniechef losgelassen?"
"Weil er ein Arsch ist. Du kannst dir nicht vorstellen, was das für ein Vorbeimarsch für mich war. Die können uns doch nichts. Schließlich ist erledigt, wer die Parole nicht sagt."
"Stimmt. Hätte sein können, dass er gar keinen Dienst hat und abhauen wollte."
"Wie bescheuert der ist, siehst du schon daran, dass er dieses Theater genau vor einem Hochstand spielt. Mann, wenn das drüben einer mitbekommen hätte - das Eisstadion wäre leer und der Hochstand voll. Und wir ziehen hier so eine Show ab."
Mir fiel ein: "Und dann noch einer mit 'nem Fotoapparat und wir demnächst mit dem Bekloppten in der BILD-Zeitung. Schönen Dank!"
"Ohgott, haben wir Schwein gehabt.!
"Und dein Ko-Chef erst mal. Der könnte jetzt tot sein."
"Oder er hätte einen zerbissenen Unterarm."

Was der Hauptmann gemacht hatte, war verboten: Verdeckte Kontrolle war untersagt, also das Anschleichen an Posten oder solch ein Quatsch, den der Hauptmann gemacht hatte. Das war auch verdeckte Kontrolle. Die war lebensgefährlich und deshalb verboten.
Wie mir Klaus erzählte, war des Ko-Chefs Hobby die verdeckte Kontrolle gewesen. Einmal war schon auf ihn geschossen worden, als er sich über einen Hinterlandsmauer zurückziehen wollte. Eine Kugel soll einen seiner Hacken gestreift haben. Ob es stimmt, weiß ich nicht. Klaus verbürgte sich dafür, obwohl er nicht dabei gewesen war. Vorstellen konnte ich es mir seit meiner Begegnung mit dem Kerl allemal.

Warum er den Mist genau vor dem Hochstand abzog, konnte ich nicht verstehen, auch nicht, warum er es überhaupt tat. Viel los war in seinem Koppe wohl nicht.
Ich erhielt am nächsten Tag vor 30 feixenden Soldaten meiner Kompanie einen Dank vor der Front, weil ich richtig und der Hauptmann falsch gehandelt hatte.

Angst hatte ich während der gesamten Begegnung mit dem Hauptmann nicht verspürt. Ich hatte sogar den Hundeführer an meiner Seite vergessen, bis er den Hund auf seinen Kompaniechef hetzte.
Ich kann mir das bis heute nicht erklären, denn die Angst kam danach, immer, wenn ich Streife lief. Bloß gut, dass das nicht oft vorkam.

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