Montag, 21. Juni 2010

Wellengeflüster

Drei Monate nichts eingetragen. Ich hatte drei Monate nicht ein Mal daran gedacht zu schreiben: Stattdessen war ich zum ausdauernden Genießer geworden. Hier ist so vieles, das das Leben zum Genuss macht, das die Vergangenheit verdrängt, gar auszulöschen scheint.
Wo ich bin? Nein, das erfahren Sie nicht. Ich bin nicht kreuz und quer um die Erde gefahren, geflogen und geschippert, um nun auszuplaudern, wo ich genieße. Schließlich bin ich eines Mordes verdächtig.

Ich war am Meer, lag am Strand, den Kopf in die Hände gestützt, den Blick aufs Wasser gerichtet. Das Blut sammelte sich, überfüllte die Adern im Gehirn, weil der Strand sich dem Wasser zuneigt. Früher hätte ich vermutet, es läge an der Blutfülle, dass ich die winzigen Wellchen miteinander sprechen hörte. Jetzt weiß ich, dass ruhiges Genießen Unhörbares hörbar macht.

Die winzigen Wellchen tuschelten miteinander: "Schschondaaaä."
Die Antworten kamen von links und rechts, mitunter von beiden Seiten zugleich: "Schscht-stilllll", als forderten sie, diese Strandveränderer, die kleine Angeberin auf, die Ruhe am Strand nicht zu stören. Sie fallen einander ins Wort. Manche Welle übertönt die andere. Andere rauschen halblaut an den Strand, als fürchteten sie, von den großsprecherischen ob ihrer Lautstärke beschimpft zu werden. Manche erreichen so vorsichtig den Strand, als wollten sie vor dem Ufer still stehen um nicht durch ihr Murmeln aufzufallen. Die Verspielten plätschern ans Ufer, hemmungslos, aber auch fast rauschlos.
Doch es geht auch anders. Weht ein starker Wind vom Wasser, rauscht das Meer. Es klingt, als führe ein endloser Schnellzug in einiger Entfernung. Es scheint dann, als wolle das Meer das Ufer erobern, und die Wellen brüllen der Küste ihre Angrifsslust entgegen. Auch wenn Soldaten gegen den Feind geschickt werden und sich also schicken lassen, brüllen sie, und es ist keine einzelne Stimme herauszuhören.
Drei Tage und zwei Nächte hatte das Meer gegen die Küste gebrüllt, als wollte es sich Platz schaffen, um dem Sturm zu entgehen, der es peitschte. Es hatte vergeblich versucht, vor der stürmischen Pein zu flüchten. Das Meer hatte die Kraft, in seiner Not Land zu rauben, konnte dem Sturm jedoch entgegensetzen. Das Meer ist dem Wind schutzlos ausgeliefert, wie ein Tier im Käfig seinem Peiniger. Nicht das Wasser ist schuld am überschwemmenden
Hochwasser.

Ruhe vor den Urlaubern am Strand auf Usedom? Nachts vielleicht! Und sonst, in der Sommersaison? Wie oft wurde ich gestört, wenn vormittags die ersten Urlauber den Strand heimsuchten?! Die Schlimmsten waren jene, die ihre Strandtaschen in den Sand warfen, die Arme ausbreiteten und riefen: "Ist das nicht schön? Genau wie im letzten Jahr", womit sie nicht das letzte, sondern das vorige Jahr meinten. Denn wäre das vorige das letzte Jahr gewesen, gäbe es das Jahr mit dem Wie-immer-Ausruf nicht. Doch das nur nebenbei. Wie sollte ich wohl bei dem Gerufe und dem sich anschließenden Dauergequatsche die winzigen Vormittagswellen belauschen?
Natürlich schien den Urlaubern der Strand unverändert, wie im vorigen Jahr. Doch nur wenig war wie im Jahr zuvor. Sonst hätten die Usedom-Süchtigen auch jedes Sandkorn am alten Platz gefunden. Doch Wind und die winzigen, erst recht die großen Wellen hatten in dem einen Jahr eine großes Sandkorndurcheinander angerichtet. Auch das Wasser war nicht dasselbe.

Es tauchen stets dieselben Urlaubertypen auf. Kam ein Paar aus dem Wasser, während hinter ihm ein Schlauchboot der Wasserwacht auf seiner Fahrt nach Südosten hinter dem Streckelsberg verschwand. Dem Paar eilte ein Mann, Mitte 40, entgegen. Die Frau fragte ihn: "Gehen Sie baden? Das Wasser ist gar nicht kalt."
Der Mann: "Nein, ich hörte das Boot und sah dann, dass es schneller fährt als sonst bei einer Kontrollfahrt. Ich wollte sehen, was los ist."

Damals machte mich eine Wut ganz schlapp, die Wut darüber, im Sommer nirgendwo an der See meine Ruhe finden zu können. Wenn es doch wenigstens ein Meer wäre, bittersalzig, klar und tief, das die Urlauber zu Freudenausbrüchen verführte! Doch die braune Brackbrühe der Pommerschen Bucht? Ich kann mir nicht erklären, dass in jedem Jahr mehr Urlauber in der braunen Bracke planschen, stehen, schwimmen, schreiten, wenn sie es doch in richtigen Meeren tun könnten, statt in der Oder-durchwässerten Pommerschen Bucht. Geht es den Strandbesuchern auf Usedom gar nicht um das Wasser, sondern um den Strand? Finden sie es angenehm, wenn sich Strandsand in alle Körperritzen und -spalten verirrt, in Taschen Tücher, und Sachen aller Art rieselt, auf der Haut kratzt, schabt und kitzelt? Warum finden immer mehr Urlauber das gut?

Warum fragte sie niemand danach? Fragte ich danach, als ich noch die Inselrundschau spaltenweise mit Urlaubergeschichten füllte? Warum ließen wir, ließ ich, lassen sie heute noch Urlauber und Einheimische das Wunder des Strandes bejubeln? Mir fällt nur ein Grund ein: Es ist verkaufsfördernd.
Und jene Leute, denen der Sand zuwider ist, das Wasser undurchschaubar? Merken sie nicht, was es anrichtet, dennoch zwischen Tausenden zu liegen, stehen, hocken, knien, deren gemischte Gerüche, deren Lärm zu ertragen. Sie wissen schon am ersten Strandtag, dass die Hand im Wasser amutiert scheint, tauchen sie den Arm bis über den Ellbogen in die Bracke.

Das alles lag so weit hinter mir, dass es mir erst wieder bewusst wurde, als nach fast einem halben Jahr Brigitte (Ihr wisst schon, meine Freundin aus dem "Sturmfeld") hier ankam. Das rührte alles wieder auf. Übrigens waren Brigitte und ich vor drei Monaten am selben Tag auf dem Pekinger Flugplatz gewesen, ohne es auch nur zu ahnen. Erst vor einem Monat ließ ich sie über den treuen und verschwiegenen Schill wissen, wo ich bin. Auch sie hatte eine Odyssee hinter sich, musste in der Welt umherkreuzen, damit niemand auf meine Spur gelangt.

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