Uwe Holl hatte noch eine Geschichte zurückgehalten, die ich erst kürzlich erfuhr und die ich Ihnen weitergebe. Ich weiß nicht, ob ich sie glauben soll. Er schilderte das Geschehen so lebhaft, dass ich Mühe habe zu glauben, auch er habe sie sich nur erzählen lassen. Hat er aber, behauptete er steif und fest, wie er nun mal ist. Sie kennen ihn ja.
Der Turm auf dem Dach (1)
Der Postenführer war der Herrscher an der Grenze. Dort hatte ihm niemand reinzureden oder gar herumzufuhrwerken. Tat es jemand, konnte es lebensgefährlich werden, denn jeder Posten und jeder Postenführer schleppte 60 Schuss in zwei Magazinen mit sich herum.
Natürlich waren wir die Herrscher und ebenso auch nicht, denn durch den Drill im ersten Diensthalbjahr, durch die Unterdrückungsmaschinerie waren wir zurechtgebogen worden, ob wir es wollten oder nicht. Mir wurde auch erst später klar, dass wir nicht die Herrscher waren, sondern die Werkzeuge, die sich jedoch vor sich selbst mit der Herrscherei brüsten konnten.
Mitunter nutzten wir aus, dass wir die Chefs an der Grenze waren. Hatte sich ein Kapo unfreundlich verhalten, versucht, uns allzu arg sportlich zu ertüchtigen oder anderweitig den Unmut auf sich gezogen, verabredeten wir: "Der soll sich einen Wolf laufen." Unteroffiziere, also die Kapos, liefen Streife, zogen also zu Fuß von Turm zu Turm. Besonders wenn es regnete, lungerten sie auf einem Postenturm herum und sorgten meist für schlechte Laune. Das war die beste Gelegenheit, die Streife durch den Grenzabschnitt zu jagen. Hier löste ein Signalzaun wie von Geisterhand aus und musste kontrolliert werden. Dort tauchten Schatten auf - natürlich am anderen Ende des Grenzabschnittes, damit der Weg recht lang war - und die Streife musste nachschauen, ob es nur ein Schatten war. Plötzlich wurden Turmbesatzungen von Durchfall geplagt und mussten zeitweilig ausgelöst werden, um sich entleeren zu können. Es war sehr einfach, die Streife durch den Abschnitt zu hetzen, denn jedes Postenpaar konnte den Sprechfunk im gesamten Abschnitt mithören. Pech war es nur für den Soldaten, der mit dem Kapo als zweiter Mann Streifendienst hatte. Aber der wusste immerhin kurz vor dem Dienst Bescheid, was er zu erdulden hatte und wurde im Nachhinein mit Zigaretten und Kaffee belohnt.
Diese Streifen streiften immer in der Besetzung Kapo/Soldat durch die Grenzabschnitte, im Gegensatz zu denen, die ich schon beschrieben hatte, Nebelstreife, Friedhofstreife oder das Absuchen von Ruinen, solche, die nur von Zeit zu Zeit gebraucht wurden.
Die Streifen hatte natürlich auch ihr Gutes. So ließen wir uns regelmäßig von ihr auslösen, um in der Kantine des VEB Deutsche Schallplatten Kaffee zu trinken. Die Kantine war sehr gemütlich, schön warm im Winter und ich traf dort einige bekannte DDR-Künstler, z.B. Gisela May. Die fühlten sich wohl eher durch uns belästigt.
Sehr gefragt war auch die Kantine im Haus der Ministerien, heute Finanzministerium. Die Kantine und ihre Toilette besuchten drei fast oder völlig unsichtbare Postenpaare. Unsichtbar, weil zwei Postentürme auf zwei Ecken des Flachdaches des ministeriellen Hauses besetzt waren und von der Wilhelmstraße kaum zu sehen waren. Überhaupt nicht zu erkennen war der Posten in der U-Bahn-Station Potsdamer Platz, natürlich der Abgang zur Station auf der Ostseite der Mauer. Es war der außergewöhnlichste Posten, nicht nur, weil er unterirdisch war. Es ging die Treppe hinunter auf eine Plattform, in eine kleine Halle, dann weitere Stufen hinab auf den Bahnsteig, allerdings nur ein paar Meter. Der Bahnsteig war zugemauert. Ins Mauerwerk eingelassen waren zu den Gleisen verglaste Sehschlitze und geradezu eine verschlossene Stahltür, wie in einem Bunker. Dort unten zu sitzen war entsetzlich langweilig. Die Langeweile vertreiben wir uns mit dem Anschauen uralter Westillustrierter, die vom vielen Blättern zerfleddert waren.
Ehe jemand in das Geheimnis der Westillustrierten eingeweiht wurde, mussten ihm natürlich die Postenführer vertrauen. Eine Nachts schlenderten mein Postenführer und ich durch die Halle, als er stehen blieb, sich bückte und einen Stein aus der Wandverkleidung zog. Dahinter war ein Hohlraum; er langte hinein, holte die Zeitschriften hervor und sagte: "Aber Schnauze halten." Wie ich dann sah, gab es mehrere solcher Verstecke.
Die Gleise führten nur ein kleines Stück durch den Osten und eben durch den Bahnhof. Die Westberliner wussten natürlich, dass sie durch die Station im Osten fuhren und warfen alles nur Erdenkliche aus den schmalen oberen Fenstern, auch Illustrierte. Die hätten natürlich abgegeben werden müssen, aber einige wurden für die Allgemeinheit versteckt. Doch leider warfen sie auch mit Flaschen. Ganz schlimm war es, wenn die Fans zu Spielen von Hertha BSC fuhren oder von ihnen zurückkehrten. Einige begnügten sich damit, fahnen zu schwenken. Doch es flogen auch jede Menge Feuerwerkskörper aus den U-Bahnen.
Wir meldeten, wenn wieder Unrat aus der Bahn geflogen war. Die Streife kam dann und musste aufräumen. Deshalb die Panzertür. Kumpel unter den Kapos lieferten die Zeitschriften nicht ab, sondern lasen sie mit dem Postenpaar, und einige der Illustrierten blieben in der Station, wurden versteckt und wie eine Art Heiligtum von Posten- zu Postengeneration weitergegeben.
Apropos Wurfsachen. Dort, wo Postentürme nahe der Mauer standen, flogen häufig Gegenstände, meist Steine, aus Westberlin. Nahe des Reichstagsgebäudes - Dorotheenstraße, Ecke Ebertstraße - stand ein Turm mit einem großen Hochstand gegenüber, auf dem häufig Touristen die Mauer, uns "Greposchweine" und den Osten besichtigten. Dort wurden die Grenzer so oft mit Steinen beworfen, dass eine Stahlplatte mit zwei Sehschlitzen vor das Fenster montiert worden war.
An einem Sommerabend stiegen zwei Männer auf den Hochstand, schauten herüber, unterhielten sich, bis einer der Männer ausholte und etwas in unsere Richtung warf. Es klapperte am Postenturm und wir konnnten uns nicht erklären, womit wir beworfen worden waren. Es folgten noch mehrere Würfe. Dann zeigten die Männer in unsere Richtung, wandten die Zeigefinger nach unten, machten uns so auf ihre Wurfgeschosse aufmerksam. Ich hatte schon längst die Streife gerufen. Die sollte nachschauen, was am Turm lag. Wir konzentrierten uns, weil wir fürchteten, abgelenkt zu werden: Lauerte jemand, der in den Westen abhauen wollte?
Doch es passierte nichts. Die Männer zogen sich zurück.
Die Streife kam zu uns hochgestiegen. Der Kapo grinste, öffnete die Hand, in der Münzen lagen. Die Männer hatten uns 72 Westpfennige in kleinen Münzen herübergeworfen. Stellen Sie sich vor, Merten, ich wäre damals hinuntergestiegen und hätte das Geld eingesammelt.
Was daran so schlimm gewesen wäre? Selbst wenn ich ein Ablenkungsmanöver ausgeschlossen hätte, wäre es zum einen erniedrigend gewesen, sich vor diesen Kerlen wegen 72 Westpfennigen zu bücken. Zum anderen wussten wir nicht, ob einer der beiden nicht eine Kamera gezückt hätte und ich am nächsten Tag auf Seite eins der BILD-Zeitung zu sehen gewesen wäre. Was, ich war zu misstrauisch? Sie haben keine Ahnung, Merten. BILD-Fotoreporter waren häufig an der Mauer unterwegs. So wurden einmal zwei Soldaten abgelichtet, die die Hinterlandmauer weiß zu streichen hatten. Sie lehnten mit freien Oberkörpern an der Mauer und hatten über sich riesengroß mit irgendetwas Schwarzem "EK 47 Tage" gemalt, was so viel hieß wie "Entlassungskandidat, habe noch 47 Tage zu dienen". Ich schätze, sie haben einige dieser Tage bei Knast-Ernst in Treptow oder gar in Schwedt verbracht und mussten die Tage nachdienen.
Jetzt bin ich aber vom Thema abgedriftet. Schade Merten, die Besuchszeit ist vorüber. Ich erzähle Ihnen das nächste Mal den Rest.
Da war nichts zu machen. Sie müssen sich nun bis zum nächsten Besuch gedulden.
Der Turm auf dem Dach (1)
Der Postenführer war der Herrscher an der Grenze. Dort hatte ihm niemand reinzureden oder gar herumzufuhrwerken. Tat es jemand, konnte es lebensgefährlich werden, denn jeder Posten und jeder Postenführer schleppte 60 Schuss in zwei Magazinen mit sich herum.
Natürlich waren wir die Herrscher und ebenso auch nicht, denn durch den Drill im ersten Diensthalbjahr, durch die Unterdrückungsmaschinerie waren wir zurechtgebogen worden, ob wir es wollten oder nicht. Mir wurde auch erst später klar, dass wir nicht die Herrscher waren, sondern die Werkzeuge, die sich jedoch vor sich selbst mit der Herrscherei brüsten konnten.
Mitunter nutzten wir aus, dass wir die Chefs an der Grenze waren. Hatte sich ein Kapo unfreundlich verhalten, versucht, uns allzu arg sportlich zu ertüchtigen oder anderweitig den Unmut auf sich gezogen, verabredeten wir: "Der soll sich einen Wolf laufen." Unteroffiziere, also die Kapos, liefen Streife, zogen also zu Fuß von Turm zu Turm. Besonders wenn es regnete, lungerten sie auf einem Postenturm herum und sorgten meist für schlechte Laune. Das war die beste Gelegenheit, die Streife durch den Grenzabschnitt zu jagen. Hier löste ein Signalzaun wie von Geisterhand aus und musste kontrolliert werden. Dort tauchten Schatten auf - natürlich am anderen Ende des Grenzabschnittes, damit der Weg recht lang war - und die Streife musste nachschauen, ob es nur ein Schatten war. Plötzlich wurden Turmbesatzungen von Durchfall geplagt und mussten zeitweilig ausgelöst werden, um sich entleeren zu können. Es war sehr einfach, die Streife durch den Abschnitt zu hetzen, denn jedes Postenpaar konnte den Sprechfunk im gesamten Abschnitt mithören. Pech war es nur für den Soldaten, der mit dem Kapo als zweiter Mann Streifendienst hatte. Aber der wusste immerhin kurz vor dem Dienst Bescheid, was er zu erdulden hatte und wurde im Nachhinein mit Zigaretten und Kaffee belohnt.
Diese Streifen streiften immer in der Besetzung Kapo/Soldat durch die Grenzabschnitte, im Gegensatz zu denen, die ich schon beschrieben hatte, Nebelstreife, Friedhofstreife oder das Absuchen von Ruinen, solche, die nur von Zeit zu Zeit gebraucht wurden.
Die Streifen hatte natürlich auch ihr Gutes. So ließen wir uns regelmäßig von ihr auslösen, um in der Kantine des VEB Deutsche Schallplatten Kaffee zu trinken. Die Kantine war sehr gemütlich, schön warm im Winter und ich traf dort einige bekannte DDR-Künstler, z.B. Gisela May. Die fühlten sich wohl eher durch uns belästigt.
Sehr gefragt war auch die Kantine im Haus der Ministerien, heute Finanzministerium. Die Kantine und ihre Toilette besuchten drei fast oder völlig unsichtbare Postenpaare. Unsichtbar, weil zwei Postentürme auf zwei Ecken des Flachdaches des ministeriellen Hauses besetzt waren und von der Wilhelmstraße kaum zu sehen waren. Überhaupt nicht zu erkennen war der Posten in der U-Bahn-Station Potsdamer Platz, natürlich der Abgang zur Station auf der Ostseite der Mauer. Es war der außergewöhnlichste Posten, nicht nur, weil er unterirdisch war. Es ging die Treppe hinunter auf eine Plattform, in eine kleine Halle, dann weitere Stufen hinab auf den Bahnsteig, allerdings nur ein paar Meter. Der Bahnsteig war zugemauert. Ins Mauerwerk eingelassen waren zu den Gleisen verglaste Sehschlitze und geradezu eine verschlossene Stahltür, wie in einem Bunker. Dort unten zu sitzen war entsetzlich langweilig. Die Langeweile vertreiben wir uns mit dem Anschauen uralter Westillustrierter, die vom vielen Blättern zerfleddert waren.
Ehe jemand in das Geheimnis der Westillustrierten eingeweiht wurde, mussten ihm natürlich die Postenführer vertrauen. Eine Nachts schlenderten mein Postenführer und ich durch die Halle, als er stehen blieb, sich bückte und einen Stein aus der Wandverkleidung zog. Dahinter war ein Hohlraum; er langte hinein, holte die Zeitschriften hervor und sagte: "Aber Schnauze halten." Wie ich dann sah, gab es mehrere solcher Verstecke.
Die Gleise führten nur ein kleines Stück durch den Osten und eben durch den Bahnhof. Die Westberliner wussten natürlich, dass sie durch die Station im Osten fuhren und warfen alles nur Erdenkliche aus den schmalen oberen Fenstern, auch Illustrierte. Die hätten natürlich abgegeben werden müssen, aber einige wurden für die Allgemeinheit versteckt. Doch leider warfen sie auch mit Flaschen. Ganz schlimm war es, wenn die Fans zu Spielen von Hertha BSC fuhren oder von ihnen zurückkehrten. Einige begnügten sich damit, fahnen zu schwenken. Doch es flogen auch jede Menge Feuerwerkskörper aus den U-Bahnen.
Wir meldeten, wenn wieder Unrat aus der Bahn geflogen war. Die Streife kam dann und musste aufräumen. Deshalb die Panzertür. Kumpel unter den Kapos lieferten die Zeitschriften nicht ab, sondern lasen sie mit dem Postenpaar, und einige der Illustrierten blieben in der Station, wurden versteckt und wie eine Art Heiligtum von Posten- zu Postengeneration weitergegeben.
Apropos Wurfsachen. Dort, wo Postentürme nahe der Mauer standen, flogen häufig Gegenstände, meist Steine, aus Westberlin. Nahe des Reichstagsgebäudes - Dorotheenstraße, Ecke Ebertstraße - stand ein Turm mit einem großen Hochstand gegenüber, auf dem häufig Touristen die Mauer, uns "Greposchweine" und den Osten besichtigten. Dort wurden die Grenzer so oft mit Steinen beworfen, dass eine Stahlplatte mit zwei Sehschlitzen vor das Fenster montiert worden war.
An einem Sommerabend stiegen zwei Männer auf den Hochstand, schauten herüber, unterhielten sich, bis einer der Männer ausholte und etwas in unsere Richtung warf. Es klapperte am Postenturm und wir konnnten uns nicht erklären, womit wir beworfen worden waren. Es folgten noch mehrere Würfe. Dann zeigten die Männer in unsere Richtung, wandten die Zeigefinger nach unten, machten uns so auf ihre Wurfgeschosse aufmerksam. Ich hatte schon längst die Streife gerufen. Die sollte nachschauen, was am Turm lag. Wir konzentrierten uns, weil wir fürchteten, abgelenkt zu werden: Lauerte jemand, der in den Westen abhauen wollte?
Doch es passierte nichts. Die Männer zogen sich zurück.
Die Streife kam zu uns hochgestiegen. Der Kapo grinste, öffnete die Hand, in der Münzen lagen. Die Männer hatten uns 72 Westpfennige in kleinen Münzen herübergeworfen. Stellen Sie sich vor, Merten, ich wäre damals hinuntergestiegen und hätte das Geld eingesammelt.
Was daran so schlimm gewesen wäre? Selbst wenn ich ein Ablenkungsmanöver ausgeschlossen hätte, wäre es zum einen erniedrigend gewesen, sich vor diesen Kerlen wegen 72 Westpfennigen zu bücken. Zum anderen wussten wir nicht, ob einer der beiden nicht eine Kamera gezückt hätte und ich am nächsten Tag auf Seite eins der BILD-Zeitung zu sehen gewesen wäre. Was, ich war zu misstrauisch? Sie haben keine Ahnung, Merten. BILD-Fotoreporter waren häufig an der Mauer unterwegs. So wurden einmal zwei Soldaten abgelichtet, die die Hinterlandmauer weiß zu streichen hatten. Sie lehnten mit freien Oberkörpern an der Mauer und hatten über sich riesengroß mit irgendetwas Schwarzem "EK 47 Tage" gemalt, was so viel hieß wie "Entlassungskandidat, habe noch 47 Tage zu dienen". Ich schätze, sie haben einige dieser Tage bei Knast-Ernst in Treptow oder gar in Schwedt verbracht und mussten die Tage nachdienen.
Jetzt bin ich aber vom Thema abgedriftet. Schade Merten, die Besuchszeit ist vorüber. Ich erzähle Ihnen das nächste Mal den Rest.
Da war nichts zu machen. Sie müssen sich nun bis zum nächsten Besuch gedulden.
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