Sonntag, 11. Januar 2009

Trennblätter

Nehmen Sie es, wie Sie wollen:

Ich berichte Beiläufiges, weil ich Sie länger neugierig machen möchte auf die nächste Holl-Geschichte.
Ich berichte Beiläufiges, weil ich möchte, dass Sie sich von der Bestürzung über die Holl-Geschichte vom 4. Januar erholen können, sofern Sie bestürzt waren (würde mich interessieren).

Trennblätter

Gleich an zweiter Stelle auf der Materialliste stand:

100 Stck. Trennblätter

Was alle anderen Positionen auf der Liste bedeuteten, war mir klar, Kopierpapier, Notizblöcke ... aber Trennblätter?

Ich hätte forsch 100 Trennblätter fordern können. Doch in der Materialausgabe hätten sie mir Werweißwas eingepackt und sich anschließend über meine Bildungslücke amüsiert. Welch ein Gelächter hätten die Kollegen angestimmt, wenn ich ausgepackt hätte, wovon ich dachte, es seien Trennblätter. Hatten die Kollegen etwa die Trennblatt-Besorgung angezettelt? Gierten sie danach zu erleben, wie ich mich blamierte?

War das eine Fortsetzung der nun zehn Jahre zurückliegenden Blamage, als ich, der Lehrling, losgeschickt wurde, den Kolbenschlüssel zu bringen? In der Werkzeugausgabe krähte die Ausgeberin sofort los: Hejerbät!? Hejerbät!! Hijä iss einä vonne Reperatuä! (Herbert!? Herbert!! Hier ist einer von der Reparatur!) Bring doch mal den Kolbenschlüssel! Sie wandte sich zu mir und erklärte: Der iss mir zu schwejä.
Ihr Kollege brachte einen gewaltigen Schlüssel für riesige Sechskantmuttern. Ich hätte nicht glauben sollen, dass solch Ungetüme existieren. Doch ich schleppte den 15 Kilogramm schweren Schlüssel in die Reparaturhalle. Sekunden später wusste ich, dass auch in der Werkzeugausgabe auf meine Kosten gelacht wurde, dass der Schlüssel vor Jahren angefertigt wurde, um Lehrlinge zu foppen.

Gab es eine Verbindung zwischen dem Schlüssel, der Trennblattbestellung und dem Reinfall, den ich auf einer Erdgasbohrung erlebt hatte, dem Anfang einer einjährigen Kurzkarriere im Bohrgeschäft, die mir später jedoch nützte, als ich zum Gülle-Lothar wurde (Sturmfeld-Leser wissen Bescheid).
Bohrgut und Schwerspat setzten sich in einer meterbreiten Rinne aus dem Bohrschlamm ab, wenn er aus dem Bohrloch gepresst wurde. Ich hatte das abgesetzte Gemisch aus der Rinne zu schaufeln. Rückwärts arbeitete ich mich durch die Rinne, bis ich in einem metertiefen Absetzbecken landete und die braungraue Bohrspülung meine Stiefel füllte. Dass solche Becken der Rinne zwischengeschaltet waren, um die Feststoffe aus der Spülung aufzufangen, hatte ich nicht beachtet. Seitlich hinter mir erscholl brüllendes Gelächter. Die Bohrarbeiter saßen wie die Hühner auf einem Stahlrohrgeländer, winkten, hielten sich die Bäuche oder klatschten ihre Schenkel. Erst durch das schadenfrohe Gelächter merkte ich, dass sich die Arbeiter hinter meinem Rücken versammelt hatten, um meine Landung in der Bohrspülung mitzuerleben.

Vielleicht gibt es Trennblätter tatsächlich, dachte ich, nur ich weiß nicht, welchen Nutzen sie haben. Wenn es sie gibt, bleibt die Frage, was Blätter voneinander trennen können?

Waren sie eine Erfindung der Arbeitgeber? Dann stand auf ihnen:

Arbeitnehmer,
wenn du uneffektiv arbeitest,
die Pausen nicht einhältst,
es dir an Loyalität zum Unternehmen mangelt,
werden wir uns von dir trennen!

Die Blätter lägen zwischen den Papieren in Akten, die oft benutzt wurden und in jedem Arbeitsraum hinge ein Exemplar an der Wand gegenüber dem Schreibtisch oder der Werkbank. Die Zettel hätten auch Denkdran-Zettel heißen können, doch die Bezeichnung Trennblätter hatte dieses Einschneidende, gar Zerschneidende, Schmerz verbreitende, Endgültige: Getrennt ist getrennt. Da lässt sich nichts mehr flicken. Eine Operation steht nicht in unserer Macht.

Hatten die Blätter mit Scheidungen zu tun? Gab es eine Mode, die ich nicht kannte, wonach getrennt Lebende einander Vordrucke schickten, auf denen sie unterschiedlichste Forderungen erheben konnten? Findige Geschäftemacher hatten Anwaltstexte in verständliches Deutsch übertragen, für jede Forderung mindestens ein Trennblatt. Auf jedem Trennblatt war auch ein passrechter Sinnspruch zu finden, hinterlegt mit beruhigenden Grüntönen.

Wer hatte denn gesagt, dass Trennblätter aus Papier hergestellt wurden? Bestanden verschiedene Sorten dieser Blätter aus getrockneten, gemahlenen Pflanzenteilen, die in einer Fabrik mit Wasser versetzt und zu Trennblättern gepresst und getrocknet wurden? So ähnlich, ohne die beiden letzten Arbeitsgänge, entstanden doch Säfte, warum also nicht Trennblätter. Natürlich war ihm sofort klar, dass diese Blätter die Grundlage der Trennkost waren, mit deren Hilfe Dickleibige versuchten, ihr Fett loszuwerden.

Konnten Besucher von Rockkonzerten oder sogenannten Volksfesten nicht mehr auf Trennblätter verzichten? Hüllten sich diese Leute in die Blätter, um andere Besucher nicht zu nahe an sich heranzulassen? Wollten sie ihre Kleidung schonen, die durch das Berühren der anderen hätte verschmutzen oder abnutzen können. Verkauften Veranstalter von Festen und Konzerten Trennblätter, auf die Reklame für die jeweilige Veranstaltung gedruckt worden war? Das wäre ein zweifaches Geschäft: Trennblätter verkaufen, mit der die Leute kostenlos für das Unternehmen Reklame liefen. Es wäre nichts Neues. Trugen doch die meisten Leute Kleidung mit Firmenaufschriften.
Seit wann gab es die wandelnden Litfaßsäulen nicht mehr, Menschen, über die eine Pappsäule gestülpt wurde, auf der für irgendwelche Produkte Reklame gemacht wurde? Die Menschen in den Pappsäulen erhielten Geld, wenn auch wenig, für ihre Arbeit. Leute, die heute Kleidung mit Firmenzeichen tragen, bezahlen sogar dafür, als lebende Litfaßsäulen für Unternehmen zu werben, warum also nicht mit Trennblättern?

Da ich in einem Verlag angefangen hatte zu arbeiten, entschied ich mich für die Trennblätter mit Reklameaufdrucken, betrat die Materialausgabe und sagte: 100 Trennblätter für die Abteilung 14/3-afsch Ü (9). Ich erhielt beigefarbene Pappblätter im A-4-Format mit mächtig vielen Löchern an der linken Seite, waagerechten Linien und einer nummerierten Unterteilung des rechtes Randes. Ich schaute auf den Rand der Verpackung:

100 Stück Trennblätter
gelb mit schwarzem Liniendruck
Art.Nr. 95 10208100

Enttäuscht zog ich von dannen.

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