Sonntag, 13. September 2009

Vorweihnachtszeit beginnt - im Handel

Gestern schreckte mich Thomas Schill dauerklingelnd aus dem Mittagsschlaf. Er hastete schnaufend seinen Großbauch die Treppen hinauf.
"Lothar, beinahe hättest du es verpasst. Die Vorweihnachtszeit ist ausgebrochen", und schon schnaufte Schill weiter.
"Thomas, heute ist der 12. September, nicht Dezember. Also beruhige dich, wir verpassen nichts."
"Mann, weiß ich doch. Trotzdem ist jetzt Vorweihnachten."
Ich zog zwei Mal kurz an meiner Nasenspitze und sagte: "Meinst du Vorweihnachten oder vor Weihnachten. Vor Weihnachten ist ja wohl immer, wenn das Weihnachtsfest vorüber ist. Unter Vorweihnacht stelle ich mir immer noch die Adventszeit vor. Die beginnt in diesem Jahr ..." Ich flitzte zum Kalender und ergänzte: "... am 29. November."
Schill schaute mich triumphierend an und rief aus: "Jaha, so denkst du! Du hinkst der Zeit um Jahre hinterher. Warum kannst du oller Traditionalist dich nicht ein wenig der modernen Geschwindigkeit anpassen."

Jetzt schnaufte zur Abwechslung ich und erwiderte: "Kann eine Geschwindigkeit modern sein?"
"Sei nicht immer so spitzfindig. Ich meine nur, du musst schneller werden."
"Das glaube ich nicht. Ich verstehe das so, dass ich einfach mehr Ausdauer, den sogenannten längeren Atem, haben muss, jetzt schon Anlauf nehmen soll, um Weihnachten pünktlich zu erreichen. Was ist das alles für ein Quatsch?"
Schill schürzte die Unterlippe, zog aus der Hosentasche einen bunten Prospekt, entknitterte ihn, legte ihn auf den Tisch, klatsche mit der Hand darauf und sagte: "Hier ist der Beweis, dass Vorweihnachten beginnt, undzwar genau am Montag."

Hier die erste Seite von vieren, gefüllt mit Abbildungen von Glühwein (das Etikett zeigt einen verschneiten Kirchplatz mit Sternenhimmel), Lebkuchenherzen und -sternen, auf den Innenseiten Stollenkonfekt, Spekulatius, Dominosteine und Baumkuchen, auf der Rückseite Marzipanbrote und - der Höhepunkt - Gelee-Baumbehang.



Gerade hatte ich gehört, dass Heinrich Böll einmal geäußert hatte, in Westdeutschland sei nichts schlimmer, als wenn jemand dazu beitrage, den Umsatz zu verringern. Das sagte ich Schill und fügte hinzu, dass sich daran seit der Zeit gleich nach Weltkrieg Nummer zwei nichts geändert habe und: "Du kannst dich ja eindecken mit Lebkuchen und Baumbehang, dir Glühwein erhitzen, dich mit dem Glas Glühwein wie ein Hamster vor den Berg Süßkram setzen und zweieinhalb Monate auf die Adventszeit warten."
"Glaubst du etwa, ich kann so lange warten?"
Ich schaute demonstrativ auf seinen Großbauch, dann Schill ins Gesicht. "Genau das ist doch der Trick. So wie du können viele andere auch nicht warten, bis zum 29. November, allein schon, weil zumeist Anfang November die ersten Fröste über uns kommen. Und spätestens dann schlürfen sie Glühwein und naschen dazu vom Marzipanbrot. Und? Na? Sie kaufen nach, damit sie die Adventszeit würdig begehen können. Die Läden jetzt mit Baumkuchen und Glühwein zu bestücken, steigert den Umsatz. Darum, um nichts anderes, geht es in dieser Gesellschaft. Böll hat Recht behalten."

Schill fragte mich: "Und du? Kriege ich den ersten Glühwein erst am 29. November?"
"Nein, natürlich nicht. Ich werde den Umsatz auch steigern und kaufe den ersten Glühwein, wenn der erste Frost droht."
"Vorher nicht?"
"Vorher nicht."
"Naja, bist ja doch nicht solch ein Traditionalist. Bist ja doch ein Anpasser."

 
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