Sonntag, 22. Februar 2009

Der Turm auf dem Dach (1)

Uwe Holl hatte noch eine Geschichte zurückgehalten, die ich erst kürzlich erfuhr und die ich Ihnen weitergebe. Ich weiß nicht, ob ich sie glauben soll. Er schilderte das Geschehen so lebhaft, dass ich Mühe habe zu glauben, auch er habe sie sich nur erzählen lassen. Hat er aber, behauptete er steif und fest, wie er nun mal ist. Sie kennen ihn ja.

Der Turm auf dem Dach (1)

Der Postenführer war der Herrscher an der Grenze. Dort hatte ihm niemand reinzureden oder gar herumzufuhrwerken. Tat es jemand, konnte es lebensgefährlich werden, denn jeder Posten und jeder Postenführer schleppte 60 Schuss in zwei Magazinen mit sich herum.
Natürlich waren wir die Herrscher und ebenso auch nicht, denn durch den Drill im ersten Diensthalbjahr, durch die Unterdrückungsmaschinerie waren wir zurechtgebogen worden, ob wir es wollten oder nicht. Mir wurde auch erst später klar, dass wir nicht die Herrscher waren, sondern die Werkzeuge, die sich jedoch vor sich selbst mit der Herrscherei brüsten konnten.

Mitunter nutzten wir aus, dass wir die Chefs an der Grenze waren. Hatte sich ein Kapo unfreundlich verhalten, versucht, uns allzu arg sportlich zu ertüchtigen oder anderweitig den Unmut auf sich gezogen, verabredeten wir: "Der soll sich einen Wolf laufen." Unteroffiziere, also die Kapos, liefen Streife, zogen also zu Fuß von Turm zu Turm. Besonders wenn es regnete, lungerten sie auf einem Postenturm herum und sorgten meist für schlechte Laune. Das war die beste Gelegenheit, die Streife durch den Grenzabschnitt zu jagen. Hier löste ein Signalzaun wie von Geisterhand aus und musste kontrolliert werden. Dort tauchten Schatten auf - natürlich am anderen Ende des Grenzabschnittes, damit der Weg recht lang war - und die Streife musste nachschauen, ob es nur ein Schatten war. Plötzlich wurden Turmbesatzungen von Durchfall geplagt und mussten zeitweilig ausgelöst werden, um sich entleeren zu können. Es war sehr einfach, die Streife durch den Abschnitt zu hetzen, denn jedes Postenpaar konnte den Sprechfunk im gesamten Abschnitt mithören. Pech war es nur für den Soldaten, der mit dem Kapo als zweiter Mann Streifendienst hatte. Aber der wusste immerhin kurz vor dem Dienst Bescheid, was er zu erdulden hatte und wurde im Nachhinein mit Zigaretten und Kaffee belohnt.
Diese Streifen streiften immer in der Besetzung Kapo/Soldat durch die Grenzabschnitte, im Gegensatz zu denen, die ich schon beschrieben hatte, Nebelstreife, Friedhofstreife oder das Absuchen von Ruinen, solche, die nur von Zeit zu Zeit gebraucht wurden.

Die Streifen hatte natürlich auch ihr Gutes. So ließen wir uns regelmäßig von ihr auslösen, um in der Kantine des VEB Deutsche Schallplatten Kaffee zu trinken. Die Kantine war sehr gemütlich, schön warm im Winter und ich traf dort einige bekannte DDR-Künstler, z.B. Gisela May. Die fühlten sich wohl eher durch uns belästigt.

Sehr gefragt war auch die Kantine im Haus der Ministerien, heute Finanzministerium. Die Kantine und ihre Toilette besuchten drei fast oder völlig unsichtbare Postenpaare. Unsichtbar, weil zwei Postentürme auf zwei Ecken des Flachdaches des ministeriellen Hauses besetzt waren und von der Wilhelmstraße kaum zu sehen waren. Überhaupt nicht zu erkennen war der Posten in der U-Bahn-Station Potsdamer Platz, natürlich der Abgang zur Station auf der Ostseite der Mauer. Es war der außergewöhnlichste Posten, nicht nur, weil er unterirdisch war. Es ging die Treppe hinunter auf eine Plattform, in eine kleine Halle, dann weitere Stufen hinab auf den Bahnsteig, allerdings nur ein paar Meter. Der Bahnsteig war zugemauert. Ins Mauerwerk eingelassen waren zu den Gleisen verglaste Sehschlitze und geradezu eine verschlossene Stahltür, wie in einem Bunker. Dort unten zu sitzen war entsetzlich langweilig. Die Langeweile vertreiben wir uns mit dem Anschauen uralter Westillustrierter, die vom vielen Blättern zerfleddert waren.

Ehe jemand in das Geheimnis der Westillustrierten eingeweiht wurde, mussten ihm natürlich die Postenführer vertrauen. Eine Nachts schlenderten mein Postenführer und ich durch die Halle, als er stehen blieb, sich bückte und einen Stein aus der Wandverkleidung zog. Dahinter war ein Hohlraum; er langte hinein, holte die Zeitschriften hervor und sagte: "Aber Schnauze halten." Wie ich dann sah, gab es mehrere solcher Verstecke.
Die Gleise führten nur ein kleines Stück durch den Osten und eben durch den Bahnhof. Die Westberliner wussten natürlich, dass sie durch die Station im Osten fuhren und warfen alles nur Erdenkliche aus den schmalen oberen Fenstern, auch Illustrierte. Die hätten natürlich abgegeben werden müssen, aber einige wurden für die Allgemeinheit versteckt. Doch leider warfen sie auch mit Flaschen. Ganz schlimm war es, wenn die Fans zu Spielen von Hertha BSC fuhren oder von ihnen zurückkehrten. Einige begnügten sich damit, fahnen zu schwenken. Doch es flogen auch jede Menge Feuerwerkskörper aus den U-Bahnen.
Wir meldeten, wenn wieder Unrat aus der Bahn geflogen war. Die Streife kam dann und musste aufräumen. Deshalb die Panzertür. Kumpel unter den Kapos lieferten die Zeitschriften nicht ab, sondern lasen sie mit dem Postenpaar, und einige der Illustrierten blieben in der Station, wurden versteckt und wie eine Art Heiligtum von Posten- zu Postengeneration weitergegeben.

Apropos Wurfsachen. Dort, wo Postentürme nahe der Mauer standen, flogen häufig Gegenstände, meist Steine, aus Westberlin. Nahe des  Reichstagsgebäudes - Dorotheenstraße, Ecke Ebertstraße - stand ein Turm mit einem großen Hochstand gegenüber, auf dem häufig Touristen die Mauer, uns "Greposchweine" und den Osten besichtigten. Dort wurden die Grenzer so oft mit Steinen beworfen, dass eine Stahlplatte mit zwei Sehschlitzen vor das Fenster montiert worden war.
An einem Sommerabend stiegen zwei Männer auf den Hochstand, schauten herüber, unterhielten sich, bis einer der Männer ausholte und etwas in unsere Richtung warf. Es klapperte am Postenturm und wir konnnten uns nicht erklären, womit wir beworfen worden waren. Es folgten noch mehrere Würfe. Dann zeigten die Männer in unsere Richtung, wandten die Zeigefinger nach unten, machten uns so auf ihre Wurfgeschosse aufmerksam. Ich hatte schon längst die Streife gerufen. Die sollte nachschauen, was am Turm lag. Wir konzentrierten uns, weil wir fürchteten, abgelenkt zu werden: Lauerte jemand, der in den Westen abhauen wollte?
Doch es passierte nichts. Die Männer zogen sich zurück.
Die Streife kam zu uns hochgestiegen. Der Kapo grinste, öffnete die Hand, in der Münzen lagen. Die Männer hatten uns 72 Westpfennige in kleinen Münzen herübergeworfen. Stellen Sie sich vor, Merten, ich wäre damals hinuntergestiegen und hätte das Geld eingesammelt.

Was daran so schlimm gewesen wäre? Selbst wenn ich ein Ablenkungsmanöver ausgeschlossen hätte, wäre es zum einen erniedrigend gewesen, sich vor diesen Kerlen wegen 72 Westpfennigen zu bücken. Zum anderen wussten wir nicht, ob einer der beiden nicht eine Kamera gezückt hätte und ich am nächsten Tag auf Seite eins der BILD-Zeitung zu sehen gewesen wäre. Was, ich war zu misstrauisch? Sie haben keine Ahnung, Merten. BILD-Fotoreporter waren häufig an der Mauer unterwegs. So wurden einmal zwei Soldaten abgelichtet, die die Hinterlandmauer weiß zu streichen hatten. Sie lehnten mit freien Oberkörpern an der Mauer und hatten über sich riesengroß mit irgendetwas Schwarzem "EK 47 Tage" gemalt, was so viel hieß wie "Entlassungskandidat, habe noch 47 Tage zu dienen". Ich schätze, sie haben einige dieser Tage bei Knast-Ernst in Treptow oder gar in Schwedt verbracht und mussten die Tage nachdienen.

Jetzt bin ich aber vom Thema abgedriftet. Schade Merten, die Besuchszeit ist vorüber. Ich erzähle Ihnen das nächste Mal den Rest.

Da war nichts zu machen. Sie müssen sich nun bis zum nächsten Besuch gedulden.

Sonntag, 15. Februar 2009

Die Besucherin

Nun war ich noch einmal in Stralsund, um Uwe Holl zu besuchen. Der Grund war Heli Anthus, eine der wenigen treuen Leserinnen meines Blogs. Sie fragte:
Sind Sie der Einzige, der ihn besucht? Als Sie in seiner Wohnung auf der Insel noch mit ihm sprachen, wurden Sie doch einmal von ihm fortgeschickt, weil er Besuch erwartete. Haben Sie nie erfahren, wer das war?

Tatsächlich hatte ich Holl nicht danach gefragt. Ich war so sehr mit seinen Erinnerungen beschäftigt, dass ich nicht daran dachte. Außerdem meinte ich, dass der Tod seiner Frau ihn noch zu sehr beschäftigte.

Ich gab die Anthusschen Fragen an Holl weiter. Er war ein wenig knurrig, wollte nicht antworten, sondern wich aus. Er sagte: "Das ist nicht Vergangenheit, sondern Gegenwart. Hatten wir uns nicht darauf geeinigt, in der Vergangenheit zu bleiben?"
Ich antwortete, ich wüsste von dieser Abmachung nichts. Außerdem sei das nicht Journalisten-Neugier.
"Was dann, Mitleid, weil ich keinen Besuch außer unseren Fragestunden bekomme? Niemand braucht mich zu bemitleiden."
"Es ist Mitgefühl, Herr Holl, nicht Mitleid."
"Na, nun mal keine Haarspaltereien."

Ich fragte einfach geradeheraus weiter: "Wer besucht Sie denn außer mir?"
"Sie können aber auch keine Ruhe geben. Nunja, Frau Anders von der Volkssolidarität kommt manchmal vorbei. Sie rückt ja allen Rentnern in Koserow auf die Pelle, denkt, sie müsse sich um alle kümmern."
Klar, Astrid Anders, die Kleine, die Flinke, die Verführerin mit Speis und Trank. Wer die Sturmfeld-Geschichte kennt, weiß, dass sie sich mir mit ihrem Fahrrad in den Weg stellte, als ich einen Termin mit Holl hatte, dem ich zu früh vor der Tür stand und deshalb noch Richtung Steilküste spazierte. Astrid Anders, so eine, der niemand entgeht, nicht einmal Uwe Holl, der Knurrhahn.

Ich sagte: "Frau Anders kenne ich ganz gut. Sie brachte mir die Termine für die Rentnerveranstaltungen und lud mich auch immer gleich ein."
Holl lächelte und antwortete: "Ja, das kann sie gut" und nickte mehrmals ganz leise in sich versunken.
Genau das war der Augenblick, in dem mir das bekannte Licht aufging: Holl, du alter Gauner, du hattest dich vor unsrerem Termin mit Astrid Anders unterhalten, von wegen, da kommt so ein Presseheini, der mich ausquetschen will. Kann ich den reinlassen? Und die flinke Runde wird ihm geantwortet haben, sie hätte keine schlechten Erfahrungen mit mir gemacht. Da hat er sich für die Gespräche entschieden. Ich habe das alles der Frau Anders zu verdanken!

"Na, Merten, schwillt Ihnen die Brust? Passen Sie auf, dass die Hemdknöpfe nicht wegfliegen", sagte Holl und schaute mich mit leicht zusammengekniffenen Augen an, skeptisch eben. Ich hatte mich tatsächlich gereckt und tief eingeatmet. Mensch, bist du stolz darauf, von Rentnern anerkannt zu werden? Ja, bin ich, wenn ich bedenke, wie enttäuscht Holl von meinem Ex-Chef Behr war, der Holl auf fiese Art hatte abblitzen lassen.

"Nicht ablenken, Herr Holl. Frau Anders besucht Sie manchmal im Gefängnis, weil sie Sie auch in Koserow besucht hatte. Geht die Solidarität der Volkssolidarität so weit?"
Holl sagte: "Die der Volkssolidarität wohl nicht, die der Frau Andres sehr wohl."
Ich schaute ihn nur an. Jetzt frage ich nichts, sondern versuche, ihn durch schweigen zum Reden zu bringen.
Vielleicht verging eine Minute. Dann endlich sagte er: "Sie lassen ja doch nicht locker. Von einer Frau geschieden, eine zu Grabe getragen, da wird man vorsichtig mit neuen Verbindungen; Astrid auch. Sie hat ihren Mann betreut, bis er sich endgültig zu Tode gesoffen hatte. Das dauerte mehrere Jahre. Es muss furchtbar für sie gewesen sein. Sie erzählt nicht viel davon. Zum Schluss hat sie nur noch Kotze weggewischt, gewindelt, und natürlich hat sie gewaschen, ihren Mann und die viele Dreckwäsche. Aber sie hat zu ihrem Mann gehalten, bis zum Ende. Das wollte sie so oder anders nicht noch einmal durchmachen. Deshalb haben wir immer ein wenig Abstand zueinander gehalten und haben vermieden, den Alltag in unsere Beziehung einziehen zu lassen. Logisch, dass wir nicht zusammenzogen. Und trotzdem hält sie nun zu mir, obwohl ich noch eine Weile im Knast zubringen werde. Das ist schon schön."
"Bei guter Führung kommen Sie doch früher wieder raus." Warum ich das sagte, weiß ich immer noch nicht.
Holl meinte nur: "Aber zwei Jahre muss ich absitzen und die Zeit bis zum Lebensende scheint immer schneller zu vergehen. Wenn das so weitergeht mit Astrids Besuchen, könnte es doch noch enger werden mit ihr, wenn ich hier wieder raus bin."
"Dann hat es auch sein Gutes, im Stralsunder Knast zu sitzen?"
"Ja Sie nun wieder! Witz, komm raus." Nach kurzer Pause sagte er noch: "Aber im Grunde haben Sie Recht."

Holl erzählte mir an diesem Tag noch eine Geschichte von der Grenze, wie er auf dem Potsdamer Platz einen Grenzede nicht festzunehmen brauchte, weil Holl gerade auf der Toilette war.

Sonntag, 8. Februar 2009

Der uniformierte Grenzgänger

Uwe Holl berichtete mir, wie er zum einzigen Mal in seinem Grenzerleben jemanden festnahm. Es war ein ganz besonderer Gefangener.

Der uniformierte Grenzgänger

Streife laufen war eine beliebte Abwechslung vom Postendasein auf den Türmen - bei gutem Wetter. Das System, wann wer Streife zu laufen hatte, habe ich nie begriffen. Ich hatte höchstens zwei Dutzend Mal Streifendienst. Einige Kameraden waren ständig zum Streifendienst eingeteilt.

Das Erlebnis Friedhofstreife kennen die Sturmfeld-Leser schon: nachts, bei Frost und Schnee und mit dampfender Grube war sie eine Dauerbelastung.

Anstrengend unter höchster Anspannung waren die Nebelstreifen. Ausgerechnet nach dem Nachtdienst wurde ich mehrmals völlig übermüdet in den Nebel geschickt, ich glaube, nach sehr kurzer Ruhepause. Im Nebel in der Mitte eines Grenzabschnittes konnte ich keinen der beiden Postentürme sehen.
Klar, wir waren angemeldet. Aber wussten wir, wie gut oder schlecht die Posten auf den Türmen geschlafen hatten? Ich kannte einige Kameraden, die grundsätzlich zu Dienstbeginn auf dem Turm die Kalaschnikow durchluden und sicherten, um möglichst schnell schießen zu können - entsichern und abdrücken. Wurde der Turm im Nebel erkennbar, hatte ich jedes Mal ein mulmiges Gefühl.
Aber ist ja alles gutgegangen, kam auch niemand aus dem Nebel gen Mauer geflitzt. Nach Nachtschichten brannten mir die Augen bis zum Einschlafen. Nach anschließender Nebelstreife brannten die Augen den ganzen Tag, so stierten wir in den Nebel.

Und dann kam die Streife in einer Straße hinter der Charité. Es war die schmalste Stelle zwischen Bebauung und Mauer. Die Mietskasernen waren leergezogen. Zwischen ihnen und der Mauer waren nur der Gehweg, die Straße und der andere Gehweg. Der war mit Sand bedeckt, um eventuelle Grenzdurchbrüche mit Spuren belegen zu können, falls die Posten geschlafen hatten. Vor der Mauer waren Gitter ausgelegt, die wie umgedrehte Eggen aussahen. Wer dort rauffiel ... Bei dem Gedanken zieht sich heute noch mein Kontraantlitz zusammen.
An einem Ende der Straße stand ein Postenhäuschen aus Holz zu ebener Erde. Der gegenüberliegende Posten war hinter der Häuserfront, weil die Grenze dort einen Bogen machte. Damit war auch klar, wer für welchen Abschnitt zuständig war. Außerdem war ausgeschlossen, dass sich die Posten gegenseitig beschossen, sollte Grenzede kommen. In der Mitte des Straßenabschnittes stand auf westlicher Seite ein Hochstand vor einem Eisstadion. Von dort wurden wir mit Westmusik berieselt, eine höchst willkommene Ablenkung.

Ich wurde mit meinem Posten bekannt gemacht, einem Hundeführer. Doch er machte sich erst einmal mit mir bekannt, indem sein Schäferhund mich wie aus dem Nichts ansprang. Es war ein Scherz des Hundeführers, wie er sagte, "bloß zum Angewöhnen".
Die Köche, die Hundeführer, die wir Dackellenker nannten und die Kanalkontrolle, die das Abwassersystem kontrollierte und die für uns Gullyrutscher waren, dienten in einer gesonderten Kompanie.
Klaus, der Hundeführer, kannte jedes Haus genau. Er hatte sie schon oft durchstöbert. Ich hatte keine Ahnung. Wir durchsuchten durch die leergezogenen Wohnungen, schauten aus den leeren Fensteröffnungen Richtung Charitégelände. Es waren Heime oder Dienstwohnungen, ich weiß es nicht mehr genau, in die wir schauten und deren Bewohner uns unvergessliche Erlebnisse bescherten. Ich weiß, das war gemein. Außerdem hätte Grenzede während dieser Zeit leichtes Spiel gehabt.

Als wir auf die Straße hinaustraten, kamen uns zwei Uniformierte entgegen, Grenzer? Als wir nahe genug waren, rief ich das Pärchen an. Sie sollten die Parole nennen. Für jeden Grenzdienst wurde eine neue Parole erfunden. Wer sich die wohl immer ausdachte?
Unbeirrt kamen die beiden auf uns zu. Ich rief erneut nach der Parole. Nichts, sie gingen einfach auf uns zu, als wären wir Luft.
Noch 15 Meter.
Ich konnte nun die Gesichter gut erkennen, keines war mir bekannt. Das war bedrohlich.
Jetzt hatte ich die Nase voll. Ich riss die Kalaschnikow von der Schulter und rief: "Halt! Stehen bleiben oder ich schieße!"
Ich schaute kurz zum Hochstand, doch der war nicht besetzt; es war also kein abgesprochener Fluchtversuch. Die Uniformierten waren keine zehn Meter mehr entfernt. Ich entsicherte, lud durch und schrie: "Halt!"
Noch zwei Meter!
Da schoss neben mir der Schäferhund los auf den vorderen Uniformträger, knallte die Vorderläufe auf die Schultern des Mannes und ich brüllte: "Hinlegen! Beide Hinlegen!"
Endlich gaben sie nach und legten sich auf das Kopfsteinpflaster.

Der Posten im Holzhäuschen hatte in der Zenrale Bescheid gegeben, dass wir jemanden festnahmen.
Es ging blitzschnell, dass der Trabi heranraste. Da ich den beiden auf dem Boden "Schnauze halten, kein Ton jetzt" empfohlen hatte, erfuhr ich jetzt erst vom Zugführer, dass wir den Kompaniechef der Dackellenker und Gullyrutscher und einen seiner Unteroffiziere festgenommen hatten. Am liebsten hätte ich beiden in den Hintern getreten. So, wie sich gerade erhoben, hätten sie gleich wieder langgelegen.

Klaus und ich wurden später abgeholt. Ich fragte ihn: "Warum hast du denn deinen Hund auf deinen Kompaniechef losgelassen?"
"Weil er ein Arsch ist. Du kannst dir nicht vorstellen, was das für ein Vorbeimarsch für mich war. Die können uns doch nichts. Schließlich ist erledigt, wer die Parole nicht sagt."
"Stimmt. Hätte sein können, dass er gar keinen Dienst hat und abhauen wollte."
"Wie bescheuert der ist, siehst du schon daran, dass er dieses Theater genau vor einem Hochstand spielt. Mann, wenn das drüben einer mitbekommen hätte - das Eisstadion wäre leer und der Hochstand voll. Und wir ziehen hier so eine Show ab."
Mir fiel ein: "Und dann noch einer mit 'nem Fotoapparat und wir demnächst mit dem Bekloppten in der BILD-Zeitung. Schönen Dank!"
"Ohgott, haben wir Schwein gehabt.!
"Und dein Ko-Chef erst mal. Der könnte jetzt tot sein."
"Oder er hätte einen zerbissenen Unterarm."

Was der Hauptmann gemacht hatte, war verboten: Verdeckte Kontrolle war untersagt, also das Anschleichen an Posten oder solch ein Quatsch, den der Hauptmann gemacht hatte. Das war auch verdeckte Kontrolle. Die war lebensgefährlich und deshalb verboten.
Wie mir Klaus erzählte, war des Ko-Chefs Hobby die verdeckte Kontrolle gewesen. Einmal war schon auf ihn geschossen worden, als er sich über einen Hinterlandsmauer zurückziehen wollte. Eine Kugel soll einen seiner Hacken gestreift haben. Ob es stimmt, weiß ich nicht. Klaus verbürgte sich dafür, obwohl er nicht dabei gewesen war. Vorstellen konnte ich es mir seit meiner Begegnung mit dem Kerl allemal.

Warum er den Mist genau vor dem Hochstand abzog, konnte ich nicht verstehen, auch nicht, warum er es überhaupt tat. Viel los war in seinem Koppe wohl nicht.
Ich erhielt am nächsten Tag vor 30 feixenden Soldaten meiner Kompanie einen Dank vor der Front, weil ich richtig und der Hauptmann falsch gehandelt hatte.

Angst hatte ich während der gesamten Begegnung mit dem Hauptmann nicht verspürt. Ich hatte sogar den Hundeführer an meiner Seite vergessen, bis er den Hund auf seinen Kompaniechef hetzte.
Ich kann mir das bis heute nicht erklären, denn die Angst kam danach, immer, wenn ich Streife lief. Bloß gut, dass das nicht oft vorkam.

Sonntag, 1. Februar 2009

Allmächd! Zwei Mal Neunhof

Bevor ich noch einmal den einsitzenden Rentner Holl zu Wort kommen lasse, muss ich Sie über eine weitere misslungene Karriere in meinem neuen Leben ohne Insel-Rundschau informieren.
Um die Karriere tut es mir nicht leid. Reisejournalist zu bleiben, ohne Schleichwerbung zu verbreiten, ist schwierig. Außerdem wird in so vielen Reiseportalen über Urlaub und Hotels berichtet, dass spezialisierte Journalisten bald durch PR-Leute ersetzt werden.

Diesen Reisebericht nahm mir niemand ab, obwohl er sehr nützlich ist.

Wenn Sie mal nach Nürnberg kommen und viel Zeit mitbringen, könnten sie auch einen Patrizierlandsitz mit Renaissancegarten und seltsamen Figuren an den vier Ecken des Gartens besuchen. Aber aufpassen, sonst rufen auch Sie:


Das Museums-Schloss bei Nürnberg besichtigen? Auf geht’s! Aber fahren Sie zum richtigen Touristen-Ziel. Selbst 275 Jahre alte Zwerge, die es eigentlich wissen müssten, suchen eine Nacht lang vergebens.

„Allmächd! Was sind das für Wichte, die in meinen Neunhofer Schlossgarten hineinwackeln? Sind kaum zu erkennen im Mondlicht. Irren auf den Wegen umher, als wollten sie mir altem Gespenst Angst einjagen. Da kann ich nur lachen. Diese Zwerge werde ich gehörig erschrecken.“ Bruno, seit 1279 Neunhofer Schlossgespenst, durchrauscht die Dachluke, schwingt sich hinab in die Baumkronen und umrast als blutroter Nebel mit Donnergetöse die vier Zwerge. Die drängen sich ängstlich zwischen den Rosenbüschen aneinander.

„Ihr komischen Kobolde, ihr sandsteinernen Witzfiguren, was habt ihr im Neunhofer Schlossgarten verloren?“, grollt Bruno. Nur einer der Zwerge wagt es, den Blick zu heben: „Wir sind die vier Zwerge aus dem Germanischen Nationalmuseum, die einst hier im Garten standen. Ich bin das Bratwurstmännle. Während wir es im Museum warm und trocken haben, stehen Kopien von uns im Garten. Wir sind hierher gekommen, um nach unseren Klonen zu schauen. Wir wollen ihnen Mut zusprechen, damit sie noch recht lange durchhalten und wir nicht wieder sandsteinsteif hier herumstehen müssen. Wir können unsere Ebenbilder aber nicht finden.“ Beim letzten Satz hebt das Bratwurtsmännle keck den Kopf.

„Was seid ihr nur für trübe Tassen? Ich geistere nun schon 700 Jahre durch Schloss und Garten. Steinzwerge standen hier noch nie.“ Bruno legt all seine gespenstische Kraft in seine Dröhnstimme und brüllt die Zwerge an: „Ihr Wichte wollt mich wohl auf den Arm nehmen?“ Als er die Ärmchen der Zwerge sieht, lacht er wütend mit einem schaurigen Echo, dass den Männchen der Sand von ihren Knien rieselt. Jetzt ist es das Eiermännle, das zuerst die Fassung wiedergewinnt: „Aber das ist doch der Garten in Neunhof .“ Es hält seine Hand schützend über die Eier in der Schüssel.
„Ja, unser Garten“, mischt sich mutig geworden sogar das Lautenmännle ein und schaut dabei hinter dem Dickbäuchigen hervor.
„Ihr seid im Schlossgarten in Neunhof bei Lauf. Wolltet Ihr etwa in das Neunhof bei Kraftshof?“, fragt das Schlossgespenst voller Vorfreude auf die Antwort.
„Keine Ahnung“, antwortet kleinlaut das Lautenmännle. „Außer unserer Fahrt vom Schloss ins Museum sind wir nie unterwegs gewesen.“
„Alles klar, ihr habt euch selbst hereingelegt, seid im falschen Schloss“, und Bruno brüllt ein schauriges Lachen hervor. Diesmal rieselt den Zwergen der Sand von den Nasen.

„Dies ist auch Neunhof. Hier steht ebenfalls ein Schloss. Beide Schlösser gehören der Welser-Stiftung. Und das sind die Unterschiede: Die beiden Neunhofs liegen 16 Kilometer auseinander. Hier ist der Barockgarten schon lange in einen englischen umgebaut worden. Und das Wichtigste, das Schloss bei Kraftshof ist ein Museum, dieses ein normaler Wohnsitz. Hier wohnen die Familie des Georg Freiherr von Welser und natürlich ich. Außerdem ist das Schloss Sitz der Welserschen Familienstiftung, deren Geschäfte der Georg führt.“

„Das gibt es doch nicht!“, ruft der dickbäuchige Fressnarr.
„Der Weg war umsonst!“
„Warum soll es euch besser ergehen als den Touristen, die in jedem Jahr das Museums-Schloss bei Kraftshof besuchen wollen und hier landen“, freut sich das Gespenst. „Da war der junge Freiherr gerade in seiner Hängematte eingeschlummert, als ein Ehepaar neben ihm stand und Einlass in das Schloss begehrte. Höflich wie er ist, führte der Georg die Leute. Allerdings zeigte er ihnen nur einen Raum, aus zwei Gründen: Zum einen bleiben die Wohnräume der Familie tabu. Zum anderen wird das Schloss saniert, mindestens bis zum Sommer.“

„Gibt es also kaum eine Chance für eine Besichtigung?“, fragt das Bratwurstmännle und ist damit wieder Wortführer der Zwerge. „Allmächd!“, stöhnt das Gespenst so laut, dass jedes zweite Blatt von den Bäumen segelt. „Natürlich kann das Schloss besichtigt werden, aber nicht unangemeldet, nicht zu jeder Zeit und schon gar nicht nachts“, faucht Bruno den Zwergen entgegen. „Eine Chance hat, wer sich schriftlich anmeldet, ihr Analphabeten“, ergänzt das Gespenst und lacht nicht mehr so laut, dafür sehr hämisch. „Jetzt macht euch auf die Socken, wandert die B 2 nach Nürnberg zurück und die B 4 in Richtung Erlangen weiter. Bald hinter dem Flugplatz findet ihr euer Neunhof. Und so wie ihr ausseht, erschreckt nicht vor euren Ebenbildern, ha, ha, ha!“

Wer unbedingt das Welser-Schloss Neunhof bei Lauf besuchen möchte, sollte sich rechtzeitig anmelden. Schreiben Sie an Georg Freiherr von Welser, Schloss Neunhof, 91207 Lauf.
 
blogoscoop