Sonntag, 30. November 2008

Die Aufzeichnungen des Uwe Holl, alias Martin W. (6)

Teil sechs der Aufzeichnungen des Uwe Holl, der sich in seinem Text Martin W. nennt.

IV. Ich erlebe unfeierliche Feierlichkeiten, Abschnitt 2

Die Parade zeichnete sich durch Fahrzeuglärm aus, dazwischen heraushörbar zerhackte Klänge von Marschmusik und die versteinerten Gesichter der Soldaten. Sicher, es hätte anders ausgesehen, wenn die Soldaten fröhlich gelacht und Blumensträuße geschwenkt hätten. Die versteinerten Gesichter waren mir lieber, entsprachen sie doch dem, was die Soldaten lernten: das Waffenhandwerk! (Ein schlimmes Wort: Handwerk ist immer etwas im Kleinen arbeitendes, materielle Werte hervorbringendes. Waffenhandwerk müßte massenweise Zerstörung und grenzenlose Menschenschlächterei heißen.)

Der Demonstrationskrampf löste sich auf. Die Menschen strömten auseinander, um sich am Rande des Platzes wieder zusammenzufinden. Hier war Verkaufsstand an Verkaufsstand aufgebaut worden, und es wurden Waren verkauft, die alle einen gemeinsamen Namen trugen: Defizit. Nun war also das eigentliche Fest herangebrochen, und es bestand in einer, kleinen Kauforgie. Geduldig wie die Schafe, ging es mir wieder durch den Kopf. In langen Reihen, wie aufgefädelt, lauerten die Leute auf den festlichen Augenblick, etwas Defizitäres zu erkaufen.

An einem Stand gab es Unruhe; dort war es vorbei mit der Schafsgeduld. Eine Frau hatte die wart ende Menge ignoriert und war bis zum Stand vorgedrungen.
"Das, Ende ist dort hinten! Hier müssen alle warten, bis sie an der Reihe sind! Das ist ja eine Frechheit! Was nehmen Sie sich heraus?", tönte es hinter ihr. Und sie: "Ich muß gleich nach Haus! Im Stall die Kuh muß jeden Moment kalben."
"Was geht uns Ihre Kuh an? Milch, kaufen wir im Laden."
"Ich kann nicht lange anstehen. Unsere beiden Kühe werden heute kalben. Da muß ich doch im Stall sein!" rief sie nun. Aber bevor aus der Kuh eine kalbende Herde wurde, schoben sie zwei Männer zur Seite.

An einem anderen Stand eine ähnliche Szene: Eine junge Frau hatte sich an den Stand gedrängt und ''Ich habe einen Invalidenausweis. Ich darf nicht lange stehen," rief sie. Ein Mann rief zurück: "Zeigen Sie uns den Ausweis. Dann können Sie vorgehen." Und eine Frau fügte hinzu: "Besser noch, Sie legen sich ins Bett und schicken uns Ihren Mann. Der kann sich dann hinten anstellen."
"Widerlich ist das," sagte ich zum Alten. "Wie mögen diese Menschen sich verhalten, wenn das tägliche Brot oder das Wasser eine Weile nicht für alle ausreichen würden?"
"Wir wollen weitergehen," antwortete er. Dazu hätte er mich nicht auffordern zu brauchen; was wir erlebt hatten, war schon nicht mehr feierlich, wie man in unserem Land sagt.
Weiter, weiter, und seine Sinne waren wieder auf der Suche nach dem Morgenwind. Aus der Neugier auf seine große Liebe wurde mir ein Schmerz und der hieß: Was wird, wenn er ihr nicht begegnet; was wird, wenn er ihr begegnet.

Wir waren auf einem zweiten großen Platz angelangt. Hier fand statt, was die Einheimischen als Rummel bezeichneten: Es waren viele Karussells aufgebaut, grellfarbige Wagen und grellfarbige Kulissen. Zwischen den Karussells die Glücksbuden. Was verführte die Menschen, es als angenehm zu empfinden, in einen Wagen gepreßt im Kreis herumgedreht zu werden, dabei den donnernden, quietschenden, rasselnden Transportgeräuschen und der diese Geräusche übertönenden Musik und dem Staub des Platzes ausgeliefert zu sein? Was verführte die Menschen, ihr Glück herauszufordern, indem sie Zettel aus einem Kasten auswählten und enttäuschte Gesichter hatten, wenn auf dem auseinander gefalteten Zettel das Wort 'Niete' stand, statt einer Glücksnummer? War es ein Glück, einen Stoffbären, einen Baukasten oder einen Salzstreuer zu gewinnen?

Aber sie hatten, die Menschen, einen passenden Namen für diese Volksbelustigung gefunden: Rummel. Und das heißt in unserer Sprache nichts anderes als lärmender Betrieb oder Durcheinander. Wem kam es in einer der vielen Schießhallen in den Sinn, wie - nun, sagen wir - ungewöhnlich es ist, auf Blumen zu schießen, auch wenn es nur Papierblumen waren? So also feierte das Volk den Großen Volksfeiertag.

Weiter, weiter zum Stadtpark, auf dem Rasen, unter Kastanien, fanden wir Platz zum Ausruhen. Nicht weit von uns lagerte eine Gruppe junger Leute. Zwei von ihnen spielten Gitarre, die anderen lauschten den Klängen, und auch ich war schnell gefangen von den Harmonien. Schließlich schlief ich ein. Als ich erwachte, hörte ich keine Gitarrenklänge mehr. Einige Zivilisten mit grünen Armbinden und dem Landessymbol darauf waren damit beschäftigt, die Jugendlichen vom Rasen zu treiben. Zu mir kamen ebenfalls zwei der Männer: "Verschwinden Sie hier endlich, Sie Rasenschänder, oder sollen wir erst die Polizei holen?" Und in diesem Augenblick bemerkte ich, daß der Alte verschwunden
war.

Ich ging zum Parkweg. Auf zwei Bänken hatten sich die Jugendlichen niedergelassen. Als ich in ihre Nähe kam, riefen sie mich zu sich.
"Der Opa der vorhin bei dir war, läßt bestellen, er sei schon losgegangen. Er sucht irgend etwas, und du kannst ihm dabei nicht helfen. Es kann länger dauern, sagte er, und du sollst schon vorausgehen. Den Weg würdest du kennen. Komische Sache, nicht?''
"Nicht komische, traurige Sache." Er läßt mich hier allein und geht seiner Wege. Wer weiß, was er vorhat? Falls es doch zu einer Begegnung mit seinem Morgenwind kam, sollte ich nicht dabei sein. Das war verständlich. Aber er hatte sich,während ich schlief, auf den Weg gemacht.

Was sollte das Grübeln nützen? Nun, wo ich ohne Führer war, machte ich mich bald auf den Rückweg und war in der Abenddämmerung an der Hütte.
Ja Freunde, das war mein Erlebnis Nordland gewesen, und es endete mit dem Verlust des Alten und damit, daß ich in der Hütte saß und den Kopf hängen ließ.

Sonntag, 23. November 2008

Die Aufzeichnungen des Uwe Holl, alias Martin W. (5)

Teil 5 der Aufzeichnungen des Uwe Holl, der sich in seinem Text Martin W. nennt.

IV. Ich erlebe unfeierliche Feierlichkeiten

Wir hatten den Grenzfluß überquert und näherten uns in weitem Bogen von Norden der Grenzstadt. Es waren an diesem Morgen viele Menschen unterwegs: Jene, die feiern wollten, um so zu Genüssen aller Art zu gelangen, jene, die die Festtage nutzen wollten, auf dem Markt Waren zu verkaufen, um so in den Genuß zusätzlichen Geldes zu gelangen. Ja, Freunde, so unterschiedlich kann man sich Feiertagsgenüsse herbeischaffen.

Die Häuser im Norden der Stadt waren sehr grau. Die Menschen, die darinnen wohnten, waren wohl mit dem Grau nicht zufrieden, denn sie strichen die Fensterrahmen, grellweiß, um etwas Helles in des graue Grau zu bringen. Dadurch steigerte sich das Grau der Fassaden noch. Daß ihnen das nicht zuwider war!? Sahen sie doch, wenn sie aus ihren weißen Fenstern blickten an den Häusern gegenüber, was sie angerichtet hatten.

Im Gegensatz zum Nordteil der Stadt war das Zentrum vielfarbig hergerichtet worden. Rot, grün und goldfarben war alles, behängt mit Fahnen, Transparenten und riesigen Luftballons. Größer konnte der Kontrast zum grau-weißen Norden der Stadt nicht sein. Keine schlichte Feierlichkeit, sondern aufgesetzte Fröhlichkeit, kam es mir in den Sinn. Und während ich mit meinen Betrachtungen beschäftigt war, hetzte der Alte seine Blicke auf die Menschen. Wir hatten das Zentrum schon fast durchquert, als er sagte: "Dort ist ein Cafe, in dem wir etwas essen können."

Kurz nachdem wir sitzen, nimmt am Nebentisch ein junger Mann Platz. Er bestellt Eis mit Kirschen. Die Kellnerin vergißt den Teller für die Kirschkerne. Während der Mann die Kirschen ißt, bemerkt er das Versehen. Offensichtlich traut er sich nicht, um einen Teller zu bitten und behält die Kerne im Mund. Nun bestellt auch das Pärchen an seinem Tisch. Das ist eine Gelegenheit, um den Teller zu bitten. Jedoch der Mund ist voll. Es beginnt ihn zu würgen. Doch nun schlägt das Würgen um in ein Lachen. Er lacht laut los, die Kerne fliegen aus seinem sperrangelweit geöffneten Mund über den Tisch, auf seinen Gegenüber. Dadurch wird sein Lachen noch verstärkt zu einem brüllenden Lachen. Sein über und über bekernter Gegenüber wird rot vor Wut. Das Lachen erstirbt, und im gleichen Augenblick beginnt der Bekernte zu lachen. Er hatte erkannt, warum es so kommen mußte. Wir sind mit dem Lachen davongekommen, und wieder auf der Straße, laufen wir - immer noch amüsiert - weiter bis zum Ende des Stadtzentrums.

Der Alte: "Es ist doch wieder und wieder schwer vorauszusagen, wie sich Menschen verhalten, geraten sie in ungewöhnliche Lagen. Wahrscheinlich werden sie inzwischen gemeinsam einige Schnäpse trinken, und der Befleckte wird dem jungen Mann von seinen Kriegserlebnissen erzählen oder von seiner ersten Freundin, ungefähr so: Siehst du Junge, genau hier, wo jetzt der Kirschfleck ist, traf mich damals ein Granatsplitter. Und das kam so... Oder: Meine erste Freundin war eigentlich meine nullte, denn ich habe sie nie angefaßt. Wir trafen uns manchmal an einem Baum im Park; sie hockte unten im Gras, ich kletterte in den Baum, und wir erzählten über dies und das aus einer Entfernung von vier oder fünf Metern. Ich war gräßlich schüchtern.

Er wird den Jungen sicher kaum au Wort kommen lassen. Aber ist so der Ausgang eines kleinen Malheurs nicht gut? Es hätte auch sein können, daß der Befleckte dem Jungen einige Tage später die Rechnung für die Reinigung oder für ein neues Hemd schickt."

"Es hätte auch so zugehen können", ergänzte ich, "daß der schüchterne junge Mann vor lauter Schüchternheit und Freude über den glücklichen Ausgang seiner Kirschkernspuckerei losgeplaudert hätte, ungefähr so: Ich habe schon so lange keine Kirschen mehr gegessen, und ich habe mich so gefreut, endlich wieder welche zu bekommen. Es ist doch schön, daß an Feiertagen viele seltene Waren unters Volk kommen. Da merkt man so richtig, daß Feiertag ist."

"Und der Besudelte wird antworten: Ja, ja, saure Wochen, frohe Feste. So muß es sein, sonst macht das Feiern keinen Spaß mehr. Und das ist dann wieder so typisch nordisch." Er sprach aber schon wieder ganz nebenher. Ihr wißt ja, Freunde, er war auf der Suche.

Wir gingen auf anderen Straßen zurück zum zentralen Festplatz. Treu und geduldig wie Schafe standen auf dem Platz einige tausend Menschen und lauschten ergeben der Ansprache ihres lokalen Oberhauptes. Es sprach von dem wünschenswerten, friedlichen 'Nebeneinander mit den Nachbarnationen' und ich dachte: nicht friedliches Nebeneinander sondern Friedhofsstille zwischen den Nationen meint er. Als er von den 'Gefahren feindlicher Infiltration' sprach, mußten der Alte und ich schmunzeln, obwohl es uns eine Beleidigung hätte sein müssen. All seine Worte rochen nach Abkapselung, nach Isolation und es war ein schlechter Geruch. Später lobte der Redner den 'dynamischen Aufschwung der Wirtschaft' im Lande und es wurde unruhig in der Menge. (Ganz nebenbei, Freunde: Wie kann es einen Aufschwung geben ohne innere Kraft, ohne Bewegung; denn das 'dynamisch' ist der Physik entlehnt. Bei Aufschwung denke ich immer an den Sport; dort hat das Wort seine eigentliche Berechtigung. Also ist der 'dynamische Aufschwung' eine unglauwürdige Konstruktion im Zusammenhang mit dem Wort Wirtschaft!) Die Unruhe zeigte aber keine Zustimmung zu des Redners Worten an. Sie schwappte nicht bis zum Redner hinüber, oder dieser wollte oder konnte nicht den Inhalt seines Manuskriptes verlassen, sonst hätte er es der Masse heute erlassen, 'alles zu tun für den Frieden'. Ich fragte den Alten: "Was meint er mit 'alles'?" "Niemand weiß, was 'alles' ist. Hier wird ja allerhand getan für den Frieden. Zum Beispiel wird Rad gefahren für den Frieden. Ich kann mir vorstellen, genauso könnte man Bockwurst essen für den Frieden und - Scherz beiseite - Krieg führen, alles für den Frieden. Und auch das wäre lange noch nicht 'alles'. Man müßte den Redner einmal befragen!"

"Ich glaube, das werden wir uns lieber verkneifen." Nun schob sich die Zuschauerkulisse zurück, und es entstand zwischen ihnen and der Rednertribüne eine freie Fläche. "Die Parade "beginnt", sagte der Alte. "Alles wie seit Jahrzehnten. Sowohl das Volk als auch die Tribünen - die Menschen müssen das doch langsam satt bekommen, die alljährlich sich gleichenden Riten."

Sonntag, 16. November 2008

Die Aufzeichnungen des Uwe Holl, alias Martin W. (4)

Teil 4 der Aufzeichnungen des Uwe Holl, der sich in seinem Text Martin W. nennt.

III. Abendwind 2

Zwei Tage später:

Es wird Abend. Mit dem Abend steigt kühler Dunst aus den Wiesen. Der Alte und ich hatten Holz für den Winter gefällt, hatten kaum ein Wort miteinander gewechselt. Machten ihn die Gedanken an das Nordland wortkarg?

Ich sitze in der Badewanne, ein Glas Tee auf dem Hocker neben der Wanne, der Zigarettenrauch vom Selbstangebauten des Alten brennt auf der Zunge. War dem Alten die Arbeit zu schwer geworden? Seine Hände! Warum hatte ich heute nicht auf seine Hände gesehen?! Sie hätten es mir verraten. War ich schon wieder so sehr mit mir beschäftigt?

Ich muß mir gleich seine Hände anschauen. Ihr wißt doch, er hat feingliedrige Hände und solche Hände sprechen, wenn wir nur richtig hinsehen.

Die Abendkühle schleicht sich nun auch in das Badehäuschen und lockt aus dem Badewasser Dampf empor. Merkwürdig ist der Alte: Er kann sein Gesicht stumm machen, und es ist immer ein freundliches Gesicht. Mir dagegen kann jeder, der will, aus dem Gesicht meine Gedanken ablesen. Das meine ich, was meinen andere Menschen? Ich hatte niemanden dazu befragt. Ich werde mit dem Alten darüber sprechen.

Nein, nicht schon wieder! Und doch, das Badehausfenster knarrt. Nein, ich werde mich nicht umdrehen. Ich weiß doch, wie der Abendwind aussieht: Eine Lichtspur duftenden offenen Haares.
"Du bist es, mit den dunklen, offenen Haaren."
"Darf ich hereinkommen?"
"Bitte, aber durch die Tür."
"Laß mich durchs Fenster steigen. Vorgestern mußte ich es, heute würde es mir Spaß machen."
"Also gut, komm herein, reiche mir den Tee und setze dich auf den Hocker. Und dann erklärst du mir, was das alles zu bedeuten hat."
"Vorgestern hast du gesungen, als ich kam. Das klang so freundlich. Ich fühlte mich richtig eingeladen. Heute bist du brummig."

"Ich finde dich ganz schon frech. Du steigst zum zweiten Mal zu mir ins Badehaus und ich soll vor lauter Freude darüber Hymnen singen? Warum machst du das alles?"
Sie hat ja Bunte Augen, große bunte Augen. Sie schaut auf mein Teeglas, keine Antwort. "Möchtest du rauchen? Ja? Aber Vorsicht, es ist Selbstangebauter. Hier! Trink einen Schluck Tee."
"Was ist das für ein Tee?"
"Schwarzer und Pfefferminztee gemischt, nach dem Rezept eines alten Mannes, der wissen wird, was den Durst löscht."
"Er schmeckt nicht besonders gut, der Tee."
"Dir schmeckt er nicht, mir dagegen schmeckt er gut. Vielleicht verrätst du mir wenigstens deinen Namen."
"Ich bin Marsha. Und du?"
"Ich heiße Martin. Dein Name ist hier selten. Ich habe dich noch nie im Dorf gesehen. Also, wie ist das nun mit dir?"
Ja, wie ist das nun mit dem Abendwind? Wo kommt sie her, wohin will sie, diese Lichtspur?

"Hier ist mein Name bestimmt selten. Ich komme aus dem Nordland und bin erst seit vorgestern hier. Ich kam an diesem Haus vorbei, hörte dich singen und dachte, wer so singt, bei dem kann man sich ausruhen. Als ich zur Tür herein wollte, sah ich einen alten Mann kommen. Ich lief hinter das Haus, um nicht gesehen zu werden und stieg durchs Badehausfenster. So war das."
"Aus dem Nordland also. Und du bist einfach so gekommen. Könnte es nicht sein, daß es für dein Kommen einen Grund gibt? Übrigens, der Alte Mann ist mein bester Freund und es gibt keinen Grund, vor ihm davonzulaufen, so ist das."
"Sei nicht wieder brummig."

"Deine Erklärung: Bist du sicher, das war alles, was du mir zu erzählen hast?"
"Ich bin mir nicht sicher. Ich erzähle nicht gern von mir.
Ach, dieser Abendwind! Marsha, Marsha, ein Badehausfenster zu durchsteigen, war dir ein Leichtes. Aber mir von dir zu erzählen, war dir eine zu hohe Hürde. Sie wird ihre Gründe haben, so schweigsam zu sein, und lieber sollte sie weiter so schweigsam bleiben, als mich, belügen. Also erzählte ich von mir, von den Streichen als Junge, aus der Schulzeit. Ich erzählte aus der Studentenzeit (Was macht ein Student, wenn er nicht studiert?).
Ich will euch jetzt nicht mit meinem Leben behelligen, aber vielleicht läßt sich aus den Erinnerungen die eine oder andere Geschichte hervorschreiben, wenn ich mit dieser fertig bin.

"Du kannst schön erzählen. Es macht Spaß, dir zuzuhören. Erzähle mir noch eine Geschichte." "Es ist spät geworden, wir werden ins Haus gehen, zum Alten. Das viele Sprechen hat mich hungrig gemacht."
"Ich werde gehen", sagte sie.
"Wo willst du bleiben in der Nacht? Wo warst du in den vergangenen Nächten?"
"Ich habe Arbeit im Hotel in der Stadt gefunden. Dort wohne ich auch."
"Du kannst bei uns bleiben, wenn du willst."
"Ich werde gehen."
"Also willst du nicht hier bleiben?"
"Ich werde gehen. Danke für die Geschichten."

Ihr Gesicht war über mir,und ich spürte ihre Lippen in meinem Gesicht. Dann ging sie - ich denke, ihr wißt schon, wohin - natürlich zum Badehausfenster, und ich machte mir nicht die Mühe, ihr zu erklären, daß das Badehaus mit einer richtigen Tür versehen ist.

Der Alte saß auf der Bank vor der Hütte.

"Seltsam, seltsam! Der Abendwind gelangt nur bis zum Badehaus. Die wenigen Schritte bis hierher können doch nicht zu viel sein."
"Der Abendwind heißtMarsha und war nicht zu bewegen, ins Haus zu kommen. Sie ist, warum, weiß ich nicht, aus dem Nordland gekommen."
"Aus dem Nordland also", waren die letzten Worte, die er heute abend sagte.

Diese wenigen Worte hatten seine große Sehnsucht hervorbrechen lassen. Trotz der schweren Arbeit am Tage, trotz der schweren Gedankenlast, dieser Bürde, die zu einem guten Teil ich ihm aufgeschultert hatte, sah ich nur ein leichtes Zittern seiner Hände. Sein Gesicht war ernst. Es brach auch kein Wort aus ihm hervor, als mir beim Abwaschen kurz nacheinander zwei Teller in Scherben gingen. Merkt ihr, Freunde, auch ich hatte nicht meinen ruhigsten Abend, und daß diese Unruhe mit dem Abendwind und dem inneren Schlachtfeld des Alten zu tun hatte, brauche ich eigentlich nicht aufzuschreiben.

Ich hatte mir vorgenommen, heute abend wirst du ihm helfen, die Mühen des Tages zu vergessen, und nun war ich bei ihm und konnte nichts ausrichten. Es war einfach, mir anzusehen, daß Marsha Abendwind in mir eine schwer zu bändigende Unruhe hinterlassen hatte, und ich glaubte, der Alte könne ihre Lippen auf meiner Wange sehen. Und so meinte auch der Alte, mich mit meinen Gedanken allein lassen zu müssen. Wir beschwiegen uns und glaubten, auf diese Weise jeder seiner Erregung Herr zu werden.

Gemach, Freunde, gemach. Wir werden bald sehen, wer Sieger wurde in diesem abendlichen Kampf, die große Sehnsucht oder die Vernunft.

Ich hatte immer geglaubt, daß mir bereits im Mutterleib zwei linke Hände herangewachsen waren, und ich hatte deshalb eine Scheu vor Arbeiten, die von meinen Händen Fingerfertigkeiten verlangten. Hier erst, beim Alten, lernte ich, daß meine Hände zu mehr taugen, als zum Bleistifthalten. Ich hatte das Ausmisten im Kuhstall gelernt, konnte Kühe melken; ich konnte mit Säge und Beil umgehen. Und ich hatte in den vergangenen Tagen das Mähen mit der Sense gelernt; wir ernteten.

"Wenn du so weitermachst, kannst du im nächsten Jahr selbst einen kleinen Hof übernehmen. In letzter Zeit sind einige Wirtschaften frei geworden und Acker liegt brach. Die Grenze treibt viele Leute aus dieser Gegend."
''Mir scheint", antwortete ich,"mit den Händen bin ich jetzt flinker als mit dem Reden."
"Was meinst du?"
"Ich meine, meiner Hände Arbeit überzeugte dich, mir ausreichende bäurische Fähigkeiten zu bescheinigen. Aber ich konnte dich nicht überzeugen, mit mir ins Nordland zu gehen, du weißt, der Große Volksfeiertag."
"Ich werde ins Nordland gehen, und ich nehme dich mit. Glaube aber nicht, daß ich es deinetwegen tue. Ich habe endlich erfahren - deshalb war ich häufig in der Stadt - daß sie schon lange wieder in der Grenzstadt lebt. Nun will ich hinüber, sie suchen."
"Deine Entscheidung hat nichts mit mir zu tun?"
"Nichts."
"Und wie ist dir jetzt zumute?"
"Wir müssen zusehen, daß wir mit der Ernte fertig werden. Unser Erntefest werden wir dann im Nordland feiern. Werden wir aber erwischt, haben wir vorläufig keinen Grund zum Feiern. Also an die Arbeit!"

Trotz der Einschränkung waren seine Worte voller Vorfreude. Die Angst, seinem Morgenwind zu begegnen, schien wie in dieser Vorfreude aufgelöst. Nun, Freunde, ihr fragt nicht, wie mir zumute war? Ob ihr es wissen wollt oder nicht, ich schreibe es euch auf: In mir polterten die Gefühle durcheinander, wie die Steine im Fluss es taten. Endlich war es mir möglich, ein wenig zu erleben, was es mit diesem Nordland auf sich hatte. Aber schwer wog der Gedanke, was wird mit dem Alten werden, finden wir seine große Liebe nicht.

Sei es, wie es sei, ihr wißt jetzt, daß gerade eine große Sehnsucht über die Vernunft gesiegt hatte. Oh, ihr Vernünftigen unter meinen Freunden, warum wiegt ihr eure Häupter über so viel Unvernunft?
Was ist denn die Vernunft? Ist sie etwas anderes, als sich selbst und damit stets auch anderen Menschen Zwang anzutun? Und ist dieses Zwang-Antun nicht so weit verbreitet in der zivilisierten Welt, daß es wie alles und jedes einen Namen bekam, der in unserer Sprache Vernunft ist? Verhöhnt diese Vernunft nicht unseren Geist und unsere Sinne? Sie macht aus Menschen Märtyrer; ja Freunde, auch so werden Märtyrer gemacht. Ich habe noch nie einen Menschen sterben sehen, aber ich glaube, diese Märtyrer werden zu jenen gehören, die weinend sterben. Wars der Alte, der so sprach? War ich es? Aber was tut das zur Sache?

Montag, 10. November 2008

Die Aufzeichnungen des Uwe Holl, alias Martin W. (3)

Teil 3 der Aufzeichnungen des Uwe Holl, der sich in seinem Text Martin W. nennt.

III. Abendwind 1

Zeit war vergangen, Wochen? Ich kann es nicht mehr sagen. Seit dem Ende der Zwistigkeiten mit den Frauen aus dem Dorf war Ruhe eingekehrt, Ruhe, die ich gesucht hatte, zum Nachdenken, zum Erinnern. Richtig, ich machte keine Pläne, meinte, alles was mir not tat zu haben. Niemanden vermißte ich von jenen, die ich vor meiner Flucht kannte.

Es war heiß geworden. Ich hatte die am Morgen gefangenen Fische zum Braten vorbereitet. Das Braten wollte ich auch heute dem Alten überlassen. Ich saß in der Badewanne und pfiff die alten Lieder. Seltsam, die Menschen, mit denen ich Jahre und Jahre zu tun hatte, waren mir fremd geworden; einige Namen fielen mir schon nicht mehr ein, und ich hatte Mühe, mich an die Gesichter dieser Menschen zu erinnern. Die Musik dagegen kam von allein und es waren doch die alten Lieder. Ich hörte die Akkorde, Textfetzen waren da, und ich war wütend darüber, daß ich nicht gleichzeitig singen und pfeifen konnte.

Draußen im Fluss rumorten die Steine auf dem Weg, die Welt kennenzulernen. Und sie büßten für ihre Neugier auf die große Welt mit ihrem steinernen Leben.
"Überall, wo ich war, ließ ich ein Stück meines Lebens zurück; auch ein Grund, seßhaft zu werden. Hier bewahre ich den Rest meines Lebens, er geht mir nicht verloren.“ Hatte nicht so der Alte gesprochen? Und weiter gesagt: „Jeden vergangenen Tag habe ich so um mich, und mein Leben wird dadurch jeden Tag um einen Tag lebendiger?" Das waren mir nun keine mystischen Worte mehr. Ich hatte bisher nur nicht in der Badewanne gesessen, alte Lieder gepfiffen, die Steine poltern hören und dabei an die Worte des Alten gedacht.

Das ist doch noch nicht der Abendwind, denke ich, als ich hinter mir das Fenster des kleinen Badehauses knarren höre, und: Da ist jemand, und ich drehe mich um, und höre mich sagen: "Ich habe die Tür doch nicht abgeschlossen. Wie soll das gehen ohne Schloß und Schlüssel? Warum kommst du durch das Badehausfenster?"
"Psst, sing weiter, bitte.“
„Ich würde sagen, ich habe gepfiffen.“
"Du hast gesungen. Bitte, pfeif oder sing, als sei ich nicht hier.“

Wieder war sie da, die Vergangenheit mit ihren Sprüchen: Du sollst einer Frau nichts abschlagen; es könnte das letzte Mal sein, daß sie dich um etwas bittet. Ich wüßte nicht zu sagen, was ich damals pfiff, oder sang ich? Ich spürte diese Frau hinter mir stehen und fragte mich nur: Warum steigt eine Frau zu mir durchs Badehausfenster?
Und sie: "Du kennst schöne Lieder, die habe ich noch nie gehört. Entschuldige, ich wollte dir keinen Schreck einjagen." Wieder durch das Fenster, als hätte das Haus keine Tür! Nur noch die Lichtspur Ihrer dunklen, offenen Haare und alles war wie vor zwei Minuten und nichts war mehr wie vor zwei Minuten.
Warum steigt eine fremde Frau zu einem Mann durchs Badehausfenster, als wäre sie der Abendwind? Ist der Abendwind eine Frau und lügt uns nur unsere Sprache einen Herrn Abendwind vor? Glaubt mir jetzt schon, daß der Abendwind eine Frau Abendwind ist. Wer's nicht glaubt, muß weiterlesen; wer's so weiß wie ich, für den ist alles gesagt.

"Du ißt heute nicht richtig," sagte der Alte.
"Das macht der Abendwind! Ich muß immer denken, daß der Abendwind eine Frau sein könnte. Was meinst du?"
"So wie der Morgenwind eine Frau ist, muß es auch der Abendwind sein."
"Was für eine Frau ist der Morgenwind?"
"Warum fragst du nicht: was für eine Frau ist der Abendwind?"
"Wenn er eine Frau ist, weiß ich wie sie ist. Und wie ist das nun mit der Dame Morgenwind?"
"Der Morgenwind ist keine Dame. Er ist eine blonde Frau mit üppigem Leib und üppigen Lippen, grau-grünen Augen, mit einer hell-klaren Stimme. Wenn sie lacht, sind ihre Augen nicht zu sehen, sie wirft dabei den Kopf ein wenig in den Nacken und ihr Hals ist dann sehr schön. Man verliebt sich in sie und es gibt keine Rettung.“
So muß sie gewesen sein, die Frau, die ihn an diesen Fluss fesselt, die nach so langen Jahren seine einzige Sehnsucht ist, die Frau, von der er nie wieder hörte und die wiederzusehen seine große Angst ist.
"Sagst du mir jetzt, was für eine Frau der Abendwind ist?"
"Der Abendwind ist eine Lichtspur dunklen Haares und kann durch ein Badehausfenster steigen. Ihre Stimme ist sanft und dunkel und sie hört gern alte Lieder."
"Dir ist wohl heute die Vroni vom Kollak über den Weg gelaufen?"
"Vroni ist mir schon oft über den Weg gelaufen. Du solltest aber wissen, daß sie dunkelrote Haare hat. Aber für ein Mädchen, das ich nicht mag, guckt sie mir zu heißhungrig durch die Männerwelt. Sie habe ich heute nicht gesehen. Aber mal etwas anderes. Am nächsten Wochenende ist im Nordland der Große Volksfeiertag. Sollten wir nicht versuchen, ..."
Warum redete ich so? Wollte ich der große Verlocker sein? Dröhnte Mitleid in mir? Mußte ich mich als der große Entzauberer geben? Wollte ich an anderer Leute Glück herumschmieden? Oder wollte ich meine Neugier um eine geheimnisvolle Frau besänftigen?
"... ein wenig Nordluft schnuppern?“
„Nein, ohne mich und ohne dich."
"Es kann nicht viel passieren: Die Wachen am Fluss werden ihre Alkoholration im Leib haben und guter Dinge sein. Eine Kleinigkeit für dich und für mich auch, wenn du dabei bist."
"Wir werden uns schlafen legen. Du hast zuviel Abendwind abbekommen, wenn er auch nicht Vroni hieß. Wie hieß der Abendwind eigentlich?"
"Er wird noch einen Namen bekommen. Gute Nacht."

Er hatte nicht abgelehnt, hatte seine Entscheidung nur vertagt. Mein Gott, Junge, mische dich nicht in andere Leben ein! Aber war der Alte denn glücklich mit seiner Sehnsucht, seinen Träumen?
Alles, was er tat, tat er bedächtig. War das seine Art, seine ständige innere Unruhe zu bekämpfen? Oder bildete ich mir sie nur ein?
Alles war möglich, so wie immer alles möglich ist, wenn man auch nicht alles ertragen kann. Daß man nicht alles ertragen kann, ist wohl der Grund, daß man nicht alles erlebt.
 
blogoscoop