Donnerstag, 30. Oktober 2008

Die Aufzeichnungen des Uwe Holl, alias Martin W. (2)

Teil 2 der Aufzeichnungen des Uwe Holl, der sich in seinem Text Martin W. nennt.

GRENZGEBIET

Die Aufzeichnungen des Martin W.

II. Ich ermutige Dorffrauen und ernte dafür eine kleine Feindschaft, die sich in Sympathie verwandelt

Am nächsten Tag sagte der Alte: „Ich werde heute in die Stadt gehen, habe dort Dinge zu regeln. Möchtest du mitkommen?“
„Nein, ich gehe lieber zum Fluss, angeln.“
„Dann kannst du am Dorfladen vorbeigehen, wir brauchen jetzt mehr Lebensmittel als ich bisher allein.“
Er schnallte seinen Rucksack über, nahm seinen Stock und ging den Weg nach Südwesten, weg vom Fluss. Also verlässt er doch den Fluss, der ihn hier festhält. Es werden wichtige Dinge sein, die er zu regeln hat.
Auf dem Dorfplatz lungerten zwei Hunde im Schatten der Treppe herum, die zum Laden hinaufführte. Am Vormittag hatten sich ihnen zwei schwarze Kühe zugesellt und es war eine seltene animalische Eintracht zwischen ihnen, von der brennenden Sonne aufgezwungen.
Aus dem Laden tönte eine schrille Frauenstimme: „Und das Eine will ich Ihnen sagen, Frau Herbst, mit der Vroni nimmt es noch 'mal ein schreckliches Ende. Diese Prügelei am Samstag beim Tanz soll sie ja auch angestiftet haben. So etwas hat es hier noch nie gegeben, dass Eine allen Jungen schöne Augen macht. Mein Vater hätte mich balbtot geprügelt.“
Ob das der Grund dafür war, dass diese keifende Alte in ihrer Jugend stets die Augen niederschlug, wenn ein Junge in ihre Nähe kam? Oder hatte sie den Jungen schöne Augen gemacht und jene hatten darin keinen Anlass gesehen, sich zu prügeln. Und nun war ein Mädchen herangewachsen, das schließlich die Aufmerksamkeit des ganzen Dorfes erregte. Und der Neid kannte keine Grenzen; eine alte Geschichte.

Hinein in den Laden und ‚Eine wie die andere rund und bunt’, war mein erster Gedanke. Nur die Verkäuferin: lang, dünn, magere Wangen und ein blauer Kittel.
„Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht“, sagte die Verkäuferin, wohl um die schrille Dicke zur Preisgabe von Einzelheiten zu bewegen. Drei Dicke und die Verkäuferin und plötzlich kein Wort mehr. Nur das Schilpen von Spatzen war zu hören, die auf dem Brotregal hockten, als ob sie die Unterhaltung der Frauen fortsetzen wollten.
„Und die Eier, die ich gestern kaufte, waren ja sehr frisch. Und das Eigelb war so gelb“, sagte eine der Frauen. Welch ein geheimnisvolles Geheimnis sie doch zu bewahren glaubten, als gäbe es kein offeneres als Dorftrinentratsch.
„Ja, und das Eiweiß war so weiß“, konnte ich mich nicht mehr bezähmen. So viel hochnäsige Verachtung, so viel Beleidigtsein und oh, erste Rache-Fünkchen blitzten mir aus acht Augen entgegen.
„Sie können Ihre Wünsche äußern, wenn Sie an der Reihe sind.“ Den dicken Frauen zugewandt, sagte die Verkäuferin: „So jung und so frech. Je weiter ihr Weg hierher ist, desto mehr glauben sie, sich gegenüber der heimischen Bevölkerung herausnehmen zu können.“
Siehe, man kannte mich nach wenigen Tagen.
Wann kennt ein Mensch einen anderen? Vermeint ihr nicht, einen Menschen so ganz und gar genau zu kennen und kommt dann nicht der Tag, an dem es euch ebenso ungewollt über die Zunge kommt: ‚Nein, das hätte ich nie gedacht, dass er so etwas macht.’ Nie werden wir einen Menschen bis zum Grunde kennen, kennen wir uns doch selbst bisweilen nicht wieder.
Genau wie ich mich nicht wiedererkannte. Was hatte ich mich in das Gespräch der Dorfposaunen einzumischen, dazu noch so herausfordernd? Also Wiedergutmachung: „Selbstverständlich, meine liebe Frau Herbst, kein Wort von mir, bis ich an der Reihe bin.“
Zu dick aufgetragen, denn: „Ich bin hier die Verkäuferin und nicht Ihre liebe Frau Herbst, merken Sie sich das. Und noch etwas, es gibt noch andere Läden, wo Sie einkaufen können.“
Nein, kein Wort mehr, bis die drei Dicken eingekauft haben. Aber sie haben schon und die spatzen-durchschilpte Stille wurde nun auf beiden Seiten peinlich.
„Also, was wünschen Sie?“ Und die Waren landeten auf dem Tisch, als seien sie Bleiklumpen. Anders hätte ich es auch gar nicht erwartet. Vielleicht doch noch etwas zur Auflockerung der Gewitterwolken: „Nein, was Sie aber auch alles für Waren in Ihrem Geschäft vorrätig haben“, Geschäft, wie viel nobler klingt das doch als Laden, „eine richtige Augenweide!“
Richtig, der erste Sonnenstrahl blitzte von Frau Herbst herüber. Die drei Dicken schienen sich schon ausgeschlossen zu fühlen: „Hier gibt es alles das, was wir gern kaufen.“ Die Betonung des ‚wir’ war nicht zu überhören. ‚Hast du die Verkäuferin, hast du die anderen’, und so säuselte ich weiter: „Also nein, Sie haben ja sogar den berühmten Deoroller Deo-Ex im Regal zu stehen. Wie viel Stück haben Sie denn? 18? Nun, ich nehme neun. Bitte, schauen Sie nicht so. Ich bin ganz bestimmt nicht so frech und verrückt, wie Sie von mir denken. Ich glaube fast, Sie wissen nichts von der sagenhaften Beiwirkung von Deo-Ex?! Ganz im Vertrauen, aber bitte, sagen Sie es nicht weiter, aber warum bitte ich Sie zu schweigen; das können Sie - da bin ich ganz sicher - viel, viel besser als das pompöseste Grab. Ja, also, wissen Sie, mir ist es ja so entsetzlich peinlich vor Frauen, aber nun habe ich Sie neugierig gemacht und bitte Sie um Nachsicht, denn es ist eine intime, eine sehr intime Angelegenheit. Ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen. Und Sie wissen wirklich nichts von irgendeiner Beiwirkung?“
Nichts, nur große Frageaugen.
„Also, es ist nichts Besonderes: Dieses Deo-Ex ist einfach nur schamhaar-entfernend. Sie brauchen sich nie mehr zu rasieren.“
Es gibt nun einmal Menschen, die ich nicht ernst nehmen kann, die für mich eine Herausforderung sind, denen gegenüber ich frech, hochnäsig und schockierend auftrete. Oh, ja, schockiert waren Sie. Eiskalte Blicke, nahe dem absoluten Nullpunkt, kreuzten sich in der sommerheißen Luft, trafen mich aber nicht, weil sie sich auf das Regal mit den ominösen Deorollern zubewegten. Doch dann: "Jetzt aber 'raus, Sie schweinischer Kerl! Dass man sich so'was bieten lassen muss! Vergessen Sie nicht zu bezahlen. Umsonst gibt es hier nichts!"
Seht ihr, Freunde, nur Frau Herbst gab ihrer Entrüstung beredten Ausdruck, behielt aber den Blick für das Geschäft trotz der vielen Minusgrade. Das konnte doch nicht wahr sein: Die drei Dicken waren ganz rotgesichtig geworden und die eisige Kälte war schon von dümmlicher Neugier. Statt das Haupt dieser Tratschen zu gewinnen, hatte ich es mir mit ihm reichlich verdorben. Aber falls ich mich nicht täuschte, würden bald Deoroller verkauft werden.
Die Menschen sind, wie sie sind, wie sie gemacht wurden und wie sie sich selber machten. Glaubt mir, auch mir ist es nicht gegeben, Menschen zu ändern und könnte ich es, ich hätte Angst davor. Aber mir ist es auch nicht gegeben, geballter menschlicher Dummheit verständnisvoll zuzuschauen. Vielleicht bin ich gar nicht so verständnisvoll, wie ich es von mir denke. Das mag es gewesen sein, weshalb ich mich einige Tage später aufmachte, Wirkungen meines ersten Besuches im Laden nachzuspüren und wenn es Not tat, noch eins draufzusetzen.
Der Alte hatte geschmunzelt, als ich ihm von meinem Einkauf erzählte und mich dann gewarnt: „Es sind dumme Frauen, die aus Mangel an eigenem Leben in fremden Leben herumtreten und die sich anmaßen, diese fremden Leben mit ihrer Spießermoral zu wägen und stets für zu leicht befinden. Sie geben ihre Meinung unumwunden zum besten und das, was so unglaublich ist, passiert immer wieder: Sie finden Gehör und viele Leute meinen, das ist es, was ich auch über diese Menschen dachte; und glaube mir, die meisten dieser Leute hatten bisher über all die Beklatschten keinen Gedanken verloren. Ja, sie sind dumm, zu dumm, zu erkennen, wie armselig ihr Leben ist, aber sie sind eine Gefahr und ein gut Teil Unglück in der Welt ist ihnen zu verdanken.“
Hatte er recht? Natürlich hatte er recht! Aber der volle Magen am Abend nützt nichts gegen den Hunger am nächsten Morgen, und das soll heißen, eingekauft werden mußte wieder. Also, laßt uns gehen! Wir wollen endlich sehen, wie es den Deoarollern ergangen ist.
Es mußte die gleiche Zeit sein, wie bei meinem ersten Einkauf, denn die zwei Hunde lagen wieder im Schatten der Treppe und den Hunden hatten sich die zwei schwarzen Kühe hinzugesellt, nachdem ihr Stammplatz im Buswartehäuschen von der Sonne okkupiert worden war.
Ein „Guten Tag“ schallte mir entgegen. Frau Herbst sagte es und es klang sehr neutral, nicht freundlich, auch nicht abweisend oder angriffslustig. Ich wurde also zum Einkauf zugelassen. ‚Wo stehen die Deoroller? Verschwunden sind sie!’ Nur eine der Dicken war im Laden und siehe, ein leichtes Rosa geriet auf ihre Wangen. Das hätte ich ihr gar nicht zugetraut.
„Frau Herbst“, gleich eine winzige Provokation; wie weit darf ich gehen, bis sie sich herausgefordert fühlt, „ich brauche wieder das Übliche. Sie wissen schon.“
Nein, kein Einsprach. Die gefüllten Tüten gelangten auf den Verkaufstisch, ohne dass ich befürchten muss, sie zerplatzten. „Frau Herbst, sagen Sie bitte, die Deoroller sind wohl ausverkauft?"
„Ich weiß auch nicht, was plötzlich in die Leute gefahren ist. Die Roller standen immer herum, niemanden interessierten sie. Nein, diese neumodischen Dinge! Nun wollen plötzlich alle gleich riechen. Ich habe schon nachbestellen müssen.“
„Nicht, dass vielleicht die Beiwirkung Wirkung zeigte?"
„Jetzt fangen Sie schon wieder an damit! Sie sind ein unmöglicher Kerl. Sie werden es sich doch noch mit mir verderben.“
Aber der Dicken war auf meine Frage ein unwillkürliches, leises, rosarotes Kopfnicken entfahren, und ich brauchte nicht weiter zu fragen.
Ich packte meine Einkäufe ein und wandte mich mit einem ''Nichts für ungut, Frau Herbst" zum Gehen.
„Nichts für ungut“, hörte ich die Verkäuferin hinter mir. Das war mehr als eine Überraschung für mich. Ihr wäret sicher auch überrascht gewesen, denn klang das nicht wie eine Entschuldigung? Und das, wo ich sie doch hinters Licht geführt hatte. Ihr Verkaufstrieb hatte über meine Frechheit gesiegt.
‚Nun, wollen wir es dabei belassen’, sagte ich mir ‚und keins mehr draufsetzen.’ Heute hatte sie es wirklich nicht verdient. Da kenne sich noch einer aus mit den Menschen und mit sich selbst! Aber können wir einen Menschen soweit kennen, dass es an ihm nichts mehr zu entdecken gibt? Hängt das nicht von zweierlei ab? Zum einen davon, dass der zu Entdeckende viele Ecken und Winkel hat, gefüllt mit geheimen Botschaften seines Lebens, aufzufinden durch ein Labyrinth von Gängen, die es auch erst zu entdecken gilt. Und je nach der Aufeinanderfolge der Entdeckungen bauen wir uns ein Bild dieses Menschen und es ist immer wieder ein neues Bild, wenn wir uns einen neuen Eingang in das Labyrinth verschaffen, weil Reihenfolge und Blickwinkel verändert sind. Zum anderen hängt die Dauer des Entdeckens vom Entdecker ab. Vor allem darf der Suchende nie glauben, alles entdeckt zu haben und er muß immer wieder einen anderen Eingang erspüren zu den Schätzen des Lebens. Und es muß ihm Spaß machen, unbändige Freude!
Ach, ich höre euch, wie ihr sagt: Ja, Herr Lehrer. Glaubt mir, nichts liegt mir daran, euch zu belehren. Es waren die Gedanken des Alten und meine, und ich weiß heute nicht mehr, wer was sagte. Ich schreibe es auf, damit ich meine eigenen Worte beherzige und damit andere, die so bisher nicht dachten, sich ein verändertes Bild vom Kennenlernen zusammendenken können. Zu schnell haben wir ein Urteil über einen Menschen bei der Hand.

Donnerstag, 23. Oktober 2008

Die Aufzeichnungen des Uwe Holl, alias Martin W. (1)

Wie versprochen, hier die Aufzeichnungen (Teil 1) des Uwe Holl , der sich in seinem Text Martin W. nennt.

GRENZGEBIET

Die Aufzeichnungen des Martin W.


I. Ich befahre einen zweinamigen Fluss, erwache als Angler und höre eine Geschichte

II. Ich ermutige Dorffrauen und ernte dafür eine kleine Feindschaft, die sich in Sympathie verwandelt

III. Abendwind I und II

IV. Ich erlebe unfeierliche Feierlichkeiten

V. Abendwind III

VI. Ich besteige einen Berg und stelle Fragen


I.

Es gibt einen Fluss, an dessen Oberlauf zwei Länder aneinander grenzen. Im Nordland heißt der Fluss Bleibdaheim, im Südland dagegen Immeranders. Mag sein, dass das Südreich ein Land voller Philosophen war, denen es der Satz: ‚Alles fließt.’ angetan hatte; mag sein, dass in den Menschen des Nordlandes von alters her die Angst vor Stromschnellen und Strudellöchern geschürt wurde. Mag auch sein, dass im Nordland Menschen am Wirken waren, die ihre Mitmenschen für etwas Besonderes aufbewahrten und deshalb niemanden abhanden kommen lassen wollten. Vielleicht hieß der Fluss im Norden auch Pleudoham und im Süden Imiranda. Niemand konnte sich unter diesen Wörtern etwas vorstellen und so wurden die Namen des Flusses veredelt.

Als ich im Sommer diesen Fluss heruntergefahren kam, machte ich am Südufer Rast. Unter dicken Korbweiden legte ich mich zum Schlafen nieder. Wieder erwacht, sah ich zu meiner Rechten einen Alten sitzen: „Wird wohl schon kühl, Fremder? Ich bin beim Feuer machen, gleich ist dir wärmer. Setz dich her.“

„Du kennst dich gut aus. Hast auch gleich erkannt, dass ich kein Hiesiger bin.“

„Ich bin oft hier und so kenne ich alle, die hier in der Nähe leben.“

„Auch die Leute vom anderen Ufer?“

„Na, breit ist der Fluss nicht, sehen kann ich auch; wie sollte ich die Leute aus dem Nordland nicht kennen. Und außerdem war ich oft genug am Nordufer. Also...“

„Ich erhielt keine Erlaubnis, am Nordufer anzulegen. Durfte man früher einfach hinüber?“

„Es muss schon lange so sein, dass die Nordischen nichts von uns wissen dürfen. Niemand darf hinüber.“

„Aber du warst dort, oft, wie du sagtest. Und du bist nie ertappt worden?“

„Wer glaubt, etwas Unrechtes zu tun, wird mit Sicherheit dafür büßen, selbst wenn es nach den Gesetzen rechtens ist, was er tat.“

Der Alte zündete einen Holzstoß an und sagte: „Dein Boot liegt sehr tief. So kommst du nur langsam voran.“

„Mir liegt daran, langsam voranzukommen.“

„Du suchst Urlauberruhe?“

Ich wies auf das Boot: „Weißt du, das Boot hat keinen Motor; ich lasse mich zur Mündung

treiben.“

„Oho, ein weiter Weg. Es könnte sein, dass dir die Zeit lang wird.“

Die Sonne war untergegangen. Im Schein des Feuers sah ich seine starken, buschigen Augenbrauen, seine kräftige Nase und dunkel glühende Augen. Seine Hände dagegen waren feingliedrig. So redefreudig er nach den ersten Worten schien, so still war er nun.

Ich hatte Zeit damals, viel gestohlene Zeit, weil ich sie nur für mich wollte, weil ich mich mit dieser Zeit aufgemacht hatte, allein zu sein, um neue Menschen zu suchen. In Unfrieden mit Bekannten und Verwandten hatte ich mich davongestohlen, hatte ich nicht den Mut gehabt, zu sagen: Ich verschwinde von hier, weil wir uns gegenseitig langweilen und ich hungrig auf andere Menschen geworden bin.

„Ich habe Hunger wie ein Wolf. Du könntest mir sagen, wo ich eine Kneipe finde.“

Der Alte antwortete: „Du kannst mit zu mir kommen. Es ist nicht weit. Wenn es dir bei mir nicht gefällt, kannst du immer noch eine Kneipe suchen.“

Als wir das niedrige Häuschen betreten hatten, sagte ich: „Das Haus ist nicht sehr groß, aber es lässt sich hier sicher gut wohnen.“

„Die Hütte ist für mich allein viel zu groß. Ich bin einmal hier eingezogen, weil sie eine schöne Lage zum Fluss hat.“

Der Fluss, an dem er sich tagsüber aufhält und in dessen Nähe er auch nachts bleibt.

„Es gefällt mir. Hier könnte ich länger bleiben.“

„Du kannst bleiben, solange du willst“, sagte der Alte, während er sich eine Pfeife anbrannte. Und dann: „Wenn du kein Urlauber bist, was bist du dann?“

„Ich bin weggelaufen.“

„Du hast also die Flucht ergriffen. Dort, wo du zu Hause bist, weiß niemand wo du bist. Hier weiß niemand, wer du bist. Du bist allein?“

„Und du? Mir scheint, du lebst auch allein.“

„Ja, sicher. Die Zeit, als ich nach Gesellschaft gierte, als ich glaubte, ohne Menschen um mich zu haben, wäre das Leben Unsinn, als ich meinte, Aufmerksamkeit erregen zu müssen, die Zeit ist vorüber. Wenn jemand glaubt, mich aufsuchen zu müssen, soll er kommen. Alle Menschen sind mir interessant genug, dass ich mit ihnen spreche und mir ihre Geschichten anhöre. Aber ich laufe niemandem hinterher.“

„Können sich Menschen nicht auch entgegenkommen?“

„Wo sollen sie sich treffen, auf halbem Wege? Woran merkst du, dass Menschen, denen du entgegengehen möchtest, dir entgegen kommen?“

„Du sagtest, es besuchen dich Menschen, die dir Geschichten erzählen. Kommen sie dir nicht entgegen?“

„Meist treibt sie die Neugier her.“

„Mich hast du an dein Feuer und in dein Haus gebeten.“

„Ich sagte schon, du kannst gehen, wann du willst.“

„Mich interessiert, warum du an diesem Fluss lebst. Ein Grenzfluss und besonders dieser hat immer etwas schamlos Trennendes, und ein viele Kilometer breiter Streifen zu beiden Seiten ist fast tristes Niemandsland. Die Menschen, die hier leben, scheinen wenig Interesse am Leben und Treiben in der ganzen übrigen Welt zu haben. Beinahe hätte ich gesagt, sie leben ohne Interesse an den Menschen, die nur wenige Meter jenseits des Flusses leben. Aber ich irre mich wohl. Dieses Interesse muss stückweise amputiert worden sein. Menschen zu hassen, ist vielleicht menschlicher, als sie nicht zur Kenntnis zu nehmen. Aber noch unmenschlicher ist es, sie nicht zur Kenntnis nehmen zu können. Was ich bisher von dir erfahren habe, lässt mich glauben, dass es auf der anderen Seite Menschen gibt, mit denen dich soviel verbindet, dass du hier geblieben bist, um in der Nähe zu sein, wenn die Möglichkeit da ist, hinüberzugelangen.“

„Du gehörst wohl zu jenen, die schnell mit einem Urteil bei der Hand sind? Das ist nicht gut. Aber ich glaube eher, du gehörst zu den Neugierigen. Du sagtest, du hättest keine Eile. Dann kannst du dich sicher noch etwas gedulden.“

„Tut mir Leid.“

„Dort hinten, das ist nun dein Bett.“

Wovon war ich erwacht? Waren es die Steine im Fluss mit ihrem Gegrummel? War es die Sonne? Das Vogelorchester? Es war wohl der Hunger, der durch den Duft von heißem Bratenfett sich in mir meldete.

„Auf, auf, heute ist Angelwetter. Du bist doch Angler?“

„Ja, das bin ich. Was brutzelt denn da?“

„Es wird dir schmecken.“

Überlegt einmal, Freunde: Ihr seid an den heimischen Herd, an die heimische Kost gewöhnt. Ihr geratet durch Umstände in eine fremde Umgebung, werdet von einem alten Mann aufgelesen, und nach der ersten Nacht plagt euch der Hunger. Ihr bekommt Spiegeleier vorgesetzt, in denen der Speck glänzt, und aus einem großen Glas dampft euch Teeduft entgegen. Würdet ihr so gierig über das Essen herfallen, wie ich es tat? Ohne Hemmungen verschlang ich meine Portion, die neue Umgebung beeindruckte mich nicht: Offensichtlich fühlte ich mich wohl - nein, nicht wie zu Hause dort hatte ich mich schon lange nicht mehr wohl gefühlt - und die Aufforderung zum Angeln hatte ein gut Teil dazu beigetragen.

Nach dem Frühstück zogen wir an den Fluss, an eine Stelle, wo Weiden Schattenkühle verbreiten würden, wenn die Sonne stieg, und wo der Fluss eine kleine Insel aus seinem Lauf hervorgebracht hatte. Aus dem Rucksack kamen seltsame Gerätschaften zum Vorschein. Angelruten fehlten.

„Angelst du ohne Rute?“, wollte ich wissen.

„Ohne Rute, wir brauchen keine. Du siehst, hier in der Bucht fließt das Wasser ganz ruhig. Tief ist es auch nicht. Nimm diese Gummischnur, wate durchs Wasser zur Insel, binde die Schnur an einen Stein, komm zurück und du wirst sehen, wie schnell wir unsere Fische fangen.“

Von der Insel zurück, sah ich, dass der Alte die Haken beködert hatte, die an einer Hauptschnur hingen. Sie war an der Gummischnur befestigt und durch deren Elastizität konnten die Haken in jeder beliebigen Entfernung den Fischen vorgeführt werden. Sehr einfach war das alles und bald stellte ich fest, sehr erfolgreich war es auch.

Während wir von Zeit zu Zeit einen Fisch landeten, erzählte ich Paul - so hieß der Alte - von mir und von den Gründen meiner Flucht. Als ich geendet hatte, sagte er: „So ist das also mit dir. Weggelaufen bist du aus Neugier auf andere Menschen. Was hast du eigentlich getan gegen die Langeweile? Ich glaube, du vermochtest nicht, dir Räume zu gewinnen für dich allein, hast gedacht, ohne andere Menschen, die ständig um dich sein müssen, ist das Leben nichts wert. Das ist ein großer Irrtum. Jeder Mensch muss Zeit für sich allein haben, Zeit, in der er nur seiner Wege geht. Denke mal darüber nach.“

„Kann schon sein, dass ich mich zu sehr an Menschen gekettet habe, die sich wiederum an mich ketteten. Erzählst du mir von dir? Mich interessiert sehr, warum du hier lebst. Wie ist das mit dem Fluss?“

„Also gut. Vertrauen gegen Vertrauen! Mich hält ein Liebesmagnet hier fest, und meine Liebe gehört auf die andere Seite des Flusses. Mit so vielen Sehnsuchtspolstern ausgestattet, dass sie als Liebesnahrung bis über meinen Tod reichen, werde ich diese Liebe nie loswerden. Ich bleibe hier, oder ich gehe hinüber. Etwas anderes geht nicht.“

Ich hatte ihn gelockt, indem ich sprach und war nun erschrocken, dass er einem Fremden anvertraute, was ihn an diesem Fluss hielt.

Dies ist die Geschichte des Alten: Früher machten sich die jungen Leute aus dem Südland einen Spaß daraus, heimlich den Grenzfluss zu durchwaten und sich im Nordland umzusehen. Besonders die jungen Männer - unter ihnen Paul - verbrachten manches Wochenende im Nordland. Ihnen hatten es die Mädchen angetan, die besonders hübsch sein sollten und als unnahbar galten. Welch eine Aufgabe, welch ein Abenteuer!

Alljährlich zur Sonnenwende wurde im Nordland eine Schönheitskönigin gewählt und - richtig, Freunde - genau diese und keine andere wollte Paul erobern. Eine Schönheitskönigin ist ein Mädchen, das tagelang nach seiner Wahl so dicht umlagert wird, wie ein weltbekanntes Gemälde in der Urlaubssaison. Während die meisten Leute eine Weile schauten, wie schön denn eine Schönheitskönigin ist und sich bald wieder handgreiflicheren Genüssen hingaben, verbrachte Paul seine Zeit in der Nähe des Mädchens. Früher oder später hätte er ihre Aufmerksamkeit erregen müssen; aber es kam ihm ein wenig der Zufall zur Hilfe. Einige junge Männer waren sich über der Frage ‚ist die Schönheitskönigin wirklich die Schönste weit und breit?’ uneins geworden, woraus sich in wenigen Minuten eine Massenprügelei entwickelte.

Nun war Paul schon immer Prügeleien aus dem Weg gegangen und so auch jetzt. Und bei diesem Aus-Dem-Weg-Gehen nahm er die Schönheitskönigin bei der Hand und führte sie weit, weit abseits. Ohne Schaden dem Getümmel entronnen, atmeten beide auf und die Königin der Schönheit konnte nicht anders und lachte. Dieses Lachen nun war es, das Paul seine - sagen wir - angelsportliche Aufgabe vergessen ließ, weil es eine erste Liebesspur in ihn einrillte. Sie verabredeten sich für das folgende Wochenende, dann für das darauf folgende und so weiter. Es muss eine große Liebe daraus geworden sein.

Aber wie so oft, wenn eine große Liebe herangewachsen ist, bleiben die großen Nöte nicht aus: Ihr wisst doch, die Grenze. Trotz der großen Liebe war es ihnen nicht möglich, zusammenzuleben. Die Politiker des Nordlandes verschlossen sich und ihr Volk der großen Welt, worüber die Politiker des Südlandes so sehr beunruhigt waren, dass sie nicht zuließen, Menschen aus dem Nordland in ihrem Lande leben zu lassen.

An einem Sonnabend war das Mädchen nicht in das Wäldchen vor dem Fluss gekommen und so war es geblieben. Paul fand später heraus, dass es verhaftet worden war ‚wegen unerlaubten Umgangs mit einer unerwünschten Person des Südlandes’, wobei dem Mädchen der Umgang nie erlaubt worden wäre. Von wem auch? Den Ausschlag aber gab das ‚einer nordischen Frau unwürdige sexuelle Verkehren vor der Ehe’. Von den Behörden seines Landes, diese durch die entsprechenden Behörden des Nordlandes dazu aufgefordert, wurde Paul verwarnt: Ihm wurde strenge Bestrafung angedroht für den Fall, er würde von ‚den zuständigen Organen der nordischen Staatsmacht auf deren Territorium aufgegriffen’.

So lebte der Alte nun schon viele Jahre am Fluss, ohne sein Mädchen je wieder gesehen zu haben. In ihm brannte die Sehnsucht weiter, die Hoffnung und leise loderte schon seit einigen Jahren die Angst, sie nie wiederzusehen und die Angst, sie wiederzusehen. Das war die Geschichte des Alten. Und so lustig sie begann, so traurig ist ihr Ende.

Seht ihr, Freunde, ihr ahnt, ein Mensch trägt eine seltsame Geschichte mit sich herum, und wenn ihr sie gehört habt, seid ihr Mitinhaber einer großen Not und beginnt zu überlegen, wie aus dieser Not eine Freude zu machen ist.

Und so kam ich auf den Gedanken, mit dem Alten illegal das Nordland zu bereisen und nach seiner großen Liebe zu suchen. Ich dachte, das sei die einzige Möglichkeit, ihn von seiner großen Not zu befreien. Aber kann man eines anderen Menschen Glück herbeifuhrwerken, wenn man sein eigenes nicht bemeistern kann?

Sonntag, 19. Oktober 2008

Mein erstes Seminar

Es hat geklappt. Ich habe mein erstes Seminar "Autobiografisches Schreiben" gehalten. Es war allerdings Zufall, dass eine Thüringerin auf das Angebot aufmerksam wurde, nachfragte und ihre drei Freundinnen überredete, fünf Tage lang auf Usedom Lebenserinnerungen aufzuschreiben.

Das war ein Quartett: Verlassen, einsam geblieben und zwei Witwen, jede 65 Jahre alt und Großmutter, meist vergnügt.
Auch das war das Quartett: Eine Tonangeberin, eine Zurückhaltende, eine Widersprechende, eine Schöne und keine Meckerliese.

Am ersten Tag stellte ich das Programm vor: Vormittags würden die Geschichten vom Vortag besprochen, nachmittags sollten die Frauen erfahren, wie Geschichten geschrieben werden können; wir legten fest, zu welchem Thema ab 17 Uhr geschrieben werden konnte. Niemand musste, alle taten es.

Da jede Thüringerin viele Geschichten der Freundinnen kannte, wäre es nicht so schlimm gewesen, sie zum Vorlesen ihrer Geschichten zu bewegen, wäre da nicht noch Uwe Holl gewesen - Uwe Holl, kürzlich wegen versuchten Totschlags zu viereinhalb Jahren verurteilt und ab morgen in Stralsund im Gefängnis.

Ich hatte ihn in Koserow angerufen, ihm vorgeschlagen, das Seminar zu nutzen. Er wollte nicht, keine Zeit und vier fremde Frauen, bewahre. Es wurde ein kurzes Telefonat. Dass ich weiß, was wir einander sagten, liegt an meinem Diktiergerät (Sturmfeld-Leser kennen es schon.).
"Keine Zeit zählt nicht. Rentner haben immer Zeit", entgegnete ich. "Und die vier Frauen sind vielleicht die letzten, die Sie in den nächsten Jahren zu sehen bekommen."
"In meinem Alter", murmelte er.
"Das Seminar ist ein Geschenk."
"Also gut, wenn es mir nicht gefällt, kann ich ja aufhören."
Typisch Holl, dachte ich.

Er kam nach Heringsdorf, blieb bis zum Seminarende am Freitag, hielt sich aber nicht an den Themenplan und legte mir eine Geschichte hin, die ich gut fand, so gut, dass ich Sie Ihnen in nächster Zeit kapitelweise in diesem Blog vorstellen werde.

"Und was ist mit der elektronischen Bürgerzeitung?", fragen Sie. Gemach, zwei Interessierte hatten sich gemeldet, mit deren Probetexten ich jedoch nicht zufrieden war. Sie brauchen noch Anleitung. Die erhalten sie in den nächsten Wochen.

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